Applaus Applaus Applaus Applaus Applaus Applaus Applaus Applaus Applaus Applaus Applaus Applaus Applaus Applaus Applaus Applaus Ich vermute, mir geht es genauso wie dem René Bauer, vermutlich wie allen. Bereits 1985 prägte der Philosoph Jürgen Habermas den Begriff von der neuen Unübersichtlichkeit im Blick auf die gesellschaftliche Zukunft, die uns aus der Perspektive westlicher Kultur erwarte. Habermas konstatierte damals das allmähliche Erschöpfen jeglicher utopischer Energien. Seither sind mehr als 35 Jahre vergangen, die Unübersichtlichkeit hat sich angefeuert, auch durch die digitale Revolution und das Unermessliche gesteigert. Der Gegenbegriff zur Utopie, die Dystopie, scheint in den letzten Jahren in Essays, im Film, in der Literatur, in der Politik allen utopischen, zukunftsfreundlichen Entwürfen den Rang abgelaufen zu haben. Die Lage scheint so sein, alles was der Fall ist, ist verfügbar, unübersichtlich sowieso und alles scheint auf eine unheimliche Weise bedrohlich und mit Blick auf die sogenannte Klimakatastrophe unbeherrschbar geworden zu sein. Anfang Februar überlege ich, zu welchem Thema ich einen Text für den heutigen Abend skizzieren wollte. Soll ich über den Trend zu Triggerwarnungen in literarischen Texten und in der Kunst schreiben? Fällt in Hinkunft die Beschäftigung mit dem Holocaust, der Besuch von Gedenkstätten, das Anhören von Zeitzeugen, das Betrachten eines Films oder einer Doku aus, weil Gefühle von Schülerinnen verletzt werden könnten? Oder soll ich mich ins Dickicht der Vogue-Debatte wagen? In einem Theater in Frankfurt entbrennt während einer Probe zu einer Shakespeare-Komödie ein Streit über die Frage, ob Männer in Frauenkleidern auf der Bühne nicht die Gefühle von Transsexuellen verletzten. Bei einer Probe zu einem Stück von Ödion von Horvath wurden Sätze, die der Autor seinen faschistisch geprägten Figuren in den Mund legte, gestrichen. Der britischen, hoch dekorierten Schauspielerin Helen Mirren, die in einem Film die legendäre israelische Ministerpräsidentin Golda Meir darstellt, wird Jew-Facing vorgeworfen, weil Mirren keine Jüdin ist. wird Jew-Facing vorgeworfen, weil Mirren keine Jüdin ist. Ein Zitat von Mirren mit diesem Vorwurf konfrontiert. Wissen Sie, wenn jemand, der nicht jüdisch ist, nicht jüdisch spielen kann, spielt dann jemand, der jüdisch ist, einen nicht jüdischen? Tage später entscheide ich mich dann doch, über die Geschichtsvergessenheit derer nachzudenken, die sich einen angedeuteten Davidstern tragend bei Demonstrationen gegen die Corona-Impfung mit den Opfern des Holocaust vergleichen. Dann kommt der 24. Februar und alles ist anders. Eine noch immer Großmacht beginnt einen Angriffskrieg gegen ein sogenanntes Brudervolk, marschiert gewaltsam über die Grenze, bombardiert Wohnhäuser, treibt die Menschen in den Großstädten in die Luftschutzkeller und zu möglicher Weise Millionen in die Flucht. In martialischer Sprache und paranoiden Bildern teilt der russische Präsident der Welt mit, dass er militärisch bis zum Äußersten zu gehen gewillt sei, wenn sich der Rest der Welt seiner Lesart, das Nachbarland zu entmilitarisieren und zu entnazifizieren, nicht anschlöße. Fast genau 30 Jahre, nachdem die Präsidenten der Staaten von Russland, Ukraine und Belarus die Existenz der Sowjetunion im Vertrag von Minsk für beendet erklärt haben, kehren ein realer Krieg, der Schrecken des Kalten Krieges und die bedrohliche Gefahr eines möglichen Atomkriegs nach Europa zurück und lassen uns, die wir von außen, als Unbeteiligte, als Wiebeteiligte, als Zaungäste, dem Unfassbaren zusehen müssen, unsere Ohnmacht spüren und sprachlos werden. Ich möchte hier nichts politisch analysieren, nichts erklären. Ich möchte nur zwei kleine Geschichten, zwei Begebenheiten erinnern. Die erste, wenige Tage nach Beginn des Ukraine-Krieges wurde in der Stadt Saporizhia am Fluss Dnepr gelegen, das Atomkraftwerk besetzt und unter russische Bewachung gestellt. War da was? Saporizhia? Ja, da war etwas. Im Sommer 1991, als die Sowjetunion in den letzten Zügen lag, war ich Stadtschreiber in Linz. die Sowjetunion in den letzten Zügen lag, war ich Stadtschreiber in Linz. Eine Bekannte aus meiner Salzburger Studienzeit studierte in Saporizia russisch und weil die Stadt Linz seit 1983 Partnerstadt der Stadt ist, die auf Russisch Saporizia heißt und die damals noch so genannt wurde, reiste ich offiziell von der Stadt Entzendet dorthin. 30 Jahre später lese ich in den Aufzeichnungen, die ich damals gemacht habe. Saporizhia, Saporozhia, hat 760.000 Einwohner, 70% der Bevölkerung sind Ukrainerinnen, 25% sind Russinnen. Die Stadt ist, darin lient es vergleichbar, eine Industriestadt. Zwei Stahlwerke, ein Autowerk, eine Aluminiumhütte, ein riesiges Transformatorenwerk und vor allem das 1932 eröffnete Wasserkraftwerk, damals das größte der Welt und ein Kernkraftwerk, das größte Europas, geben der Stadt ihr Gepräge. Damals ist die Versorgungslage schlecht, es gibt nur ein Thema, die katastrophale Auswirkung einer Preiserhöhung. Seit die Preise für fast alle Produkte um das 3- bis 5-fache angehoben wurden, haben sich die ohnehin schon mühsamen Lebensbedingungen noch einmal drastisch verschlechtert. Es herrscht ein Mangel an fast allem. Zucker, Mehl, Butter, Kaffee, Seife, Haarshampoo, Zahnpasta, Socken, Kosmetika usw. Wer in der Ukraine Butter kaufen will, braucht dazu dreierlei. Einmal die entsprechende Lebensmittelkarte, dann spezielle nur für die Ukraine ausgegebene Geldcoupons, damit die Waren nicht von Bürgern angrenzender Republiken weggekauft werden, sowie natürlich das offizielle Zahlungsmittel Rubel. Eine Mafia, die auch ganz offen so bezeichnet wird, hat dem Staat weitgehend die Kontrolle über eine ordnungsgemäße Warenverteilung entzogen. Während 10% der Bevölkerung von dieser Raubwirtschaft profitieren, wissen 90% nicht, wie es in den nächsten Monaten weitergehen soll. Die Angst vor einer ungewissen Zukunft ist überall zu spüren. Gorbatschow ist nicht so positiv angeschrieben wie bei uns. Sarkastische Witze kursieren. An der Uni habe ich Kontakt mit Lehrenden an der Germanistik und mit Studentinnen von zeitgenössischer österreichischer Literatur haben sie kaum einmal etwas gehört. In einer Lehrveranstaltung erzähle ich den Hörerinnen von Jandl, Bernhard, Handke, Jelinek, Artmann, Turini und Mitgutsch. Saporoschia im Jahr 1991. Ein Land im Umbruch. Viele träumen vom Weggehen, niemand weiß so recht, wie es weitergehen soll. Ängste und Hoffnungen, Pragmatismus und Apathie liegen eng beisammen. Trotzdem erlebe ich gerade die jungen Leute als sehr fröhliche und lebensbejahende Menschen. In ihrem Sinn für schwarzen Humor und Ironie entdecke ich manche Gemeinsamkeit mit der österreichischen Mentalität. Der bleibende Eindruck meiner Reise ist ein sehr positiver. So viel Gastfreundschaft, so viel Begegnung, so viel offenen und ungeschminkten Gedankenaustausch von Menschen unterschiedlicher Systeme habe ich bis dahin noch nie zuvor erfahren. Über die vielen Jahre ist der Kontakt abgebrochen. Ich weiß nicht, was aus den Lehrenden von damals geworden ist, ob sie noch am Leben sind. Ich weiß nicht, ob die Jugendlichen ihre Träume vom Leben verwirklichen konnten, ob sie in den Westen gegangen oder ob sie im Land geblieben sind. Ich weiß nicht, wie es ihnen in diesen Tagen ergeht. Eine zweite Begebenheit noch, eine Geschichte, die privat beginnt und an einen Ort führt, den kaum jemand kennt. Vor drei Jahren unternehme ich mit meinem damals 13-jährigen Sohn eine Reise ins Baltikum. Martin Pollacks Buch kontaminierte Landschaften im Gepäck. Die Länder des Baltikums wurden im Zweiten Weltkrieg von einer Gewalt, von einer Welle der Gewalt der deutschen Wehrmacht überrollt, überall Verbrechen, an vielen Orten anonyme Massengräber. Unsere Reise führt zuerst nach Polen. Wir besuchen Krakau und nehmen dann nicht den direkten Weg nach Norden, sondern biegen ab in den Südosten des Landes, fahren in ein Kaff namens Deniatiska. Dort hat am 22. Juni 1941 mit dem Überfall der deutschen Wehrmacht auf Russland für meinen Vater der Zweite Weltkrieg begonnen. Ein Ereignis, das er Jahrzehnte später in einer Skizze festgehalten hat und das er seinen Kindern immer wieder erzählt hat. Noch am ersten Tag der Kriegshandlungen ist er, der damals 21-Jährige, eben ausgebildet als Sanitäter, an der damals polnisch-russischen, heute polnisch-ukrainischen Grenze im ehemaligen K&K-Grenzgebiet, 70 Kilometer von Lemberg entfernt, verwundet worden und von einem Kameraden, dem späteren Gendarmeriekommandanten von Freistaat, von der Front in ein Lazarett zurückgeschleppt worden. Das Wort vom Lebensretter aus Freistaat ist später in den Erzählungen des Vaters immer wieder aufgetaucht. Als mein Sohn fünf Jahre alt war, verblüffte er mich mit dem Satz, Papa, es ist eigentlich komisch, dass wir da sind. Damals erzählte ich ihm die Geschichte seines Großvaters. Jahre später, mein Sohn ist 13, stehen wir in diesem Nest Teniatiska und ich lese Benni aus der Skizze seines Großvaters vor. Es ist heiß, ein Nachmittag auf dem Land, irgendwo tuckert ein Traktor in den Feldern, alles grünt und blüht, keine Menschen zu sehen, die Luft flirrt. Stell dir vor, sage ich zu meinem Sohn, was gewesen wäre, wenn dein Großvater damals nicht gerettet worden wäre, dann wären wir jetzt nicht da. Warum erzähle ich das? Weil sich unser Leben so vielen Zufällen verdankt und weil ich es als puren Zufall empfinden kann, heute hier zu sitzen. Es ist der Zufall, sagt die Geschichte, ob du fliehen musst oder im Warmen sitzt, ob du alles aufgeben musst von einem Tag auf den anderen, ob dich plötzlich ein Krieg aus deinem Alltag reißt, in dem es um Leben oder Tod geht, oder du das Glück hast, dich wenigstens in vorläufiger Sicherheit zu wähnen. Vier Millionen Flüchtlinge werden erwartet, die Hälfte der Bevölkerung Kiews hat ihre Stadt bereits verlassen. Ich lese von mutigen Künstlerinnen aus der Ukraine und von mutigen Künstlerinnen aus Russland, die sich gegen diesen Angriffskrieg aussprechen. Heinrich Bölls Frage aus seinem Roman »Wo warst du, Adam?« fällt mir ein. Bei Böll hieß die Antwort »Ich war im Weltkrieg«. Wer wird uns, wer wird mich fragen, wo warst du, als in der Ukraine der Krieg ausbrach und was hast du gemacht? Was können wir tun, die wir uns einige 100 Kilometer westlich der Ukraine in Sicherheit wehnen, wie aus der Ohnmacht kommen? Im Moment können wir nicht viel tun, aber das Wenige, was wir tun können, sollten wir tun. Unsere Stimme erheben, nur seriöse Berichterstattung teilen, Solidarität mit den Kriegsopfern zeigen, mit Sachspenden helfen, eventuell mithelfen, Notunterkünfte zu organisieren. Die Stadt Linz hat in den letzten Tagen eine Spendenaktion für die Ukraine und ihre Partnerstadt auf den Weg gebracht, auf die ich hier aufmerksam machen möchte. Stop this war. Die Waffen müssen wieder schweigen. Die Demokratie muss wieder aufgenommen werden. Das zweite Motto aus Bölls Roman stammt übrigens von Antoine de Exupery aus dem Roman Flug nach Arras. Der Krieg ist eine Krankheit. Wieder Typhus.