Applaus Was hilft? Sie brauchen kein schlechtes Gewissen haben. Sie können nichts dafür, dass es Ihnen gut geht und anderen nicht. Das ist ein Zufall. Für Zufälle muss man sich nicht schämen. Was Sie brauchen, ist eine Struktur, dass Sie nie aufhören, Dinge zu tun, die Ihnen gut tun, sagt meine Therapeutin. Etwas, das ihnen Freude macht, dem Leben einen Sinn gibt, wovon die Kraft wiederkommt. Ich möchte aus dem Fenster schauen können, morgens, wenn die Sonne aufgeht. Die Berge anschauen, die Hochhäuser ausblenden. Gegenüber fehlt schon wieder ein Baum. Dafür ein neuer Parkplatz, ein neuer Handymaster, ein neuer Scheinwerfer auf einer neuen Brücke und überhaupt ein ganz neuer Turm im Industriegebiet. Die Ringeldauben haben jetzt Kinder und der Nachbarschaftsfeldhase, der lebt noch. Es ist nicht alles schlecht, denke ich. schlecht, denke ich. Sie müssen diese Negativität umwandeln in etwas anderes, sagt meine Therapeutin. Zulassen, rauslassen und dann ziehen lassen. Sie schreiben doch, also schreiben Sie. Ich möchte Bücher schreiben, ganz viele Bücher. Ich möchte keine Bücher schreiben, überhaupt nie wieder, kein einziges, weil Bücher macht man aus Holz. Ich möchte Bücher aus Bambus, Bücher aus Hanf, möchte, dass mir jemand erklärt, warum wir nicht längst Hanf für alles verwenden, da ist doch wieder irgendeine Lobby drin. Wieso wir immer sagen, das dunkle Mittelalter, da wussten die doch nichts, dabei wussten die zumindest Hanf, aus dem kann man viel machen. Ich möchte Bücher aus Lumpen. Ich möchte, dass wir zwei Probleme auf einmal lösen. Dass wir, wenn wir schon kein Papier aus Hanf, dass wir es zumindest aus Lumpen. Und wenn ich Lesungen halte, dann möchte ich, dass sie mich aus dem Publikum fragen, warum es denn so glitzert, wenn man mein Buch hin und her wackelt. Dass es glitzert, weil in einer Lumpenmühle vor Ort, weil Langzeitarbeitslose für ein faires Gehalt und unter guten Arbeitsbedingungen mit einem Pensionsplan, mit Sicherheiten, weil die unverkaufte Oberteile von H&M häckseln, mit Wasser vermischen und in Rahmen gießen. Es ist so, sagt meine Lektorin. Je früher wir wissen, wann dein Buch kommen soll, desto besser. Auch erst nächstes Jahr. Wir reservieren jetzt schon das Papier. Wir kaufen es und wir lagern es einfach zwischen. Aber das macht auch die Papierknappheit noch schlimmer, sage ich. Ende des Telefons. Die Lektorin seufzt. Ich weiß, es ist nicht gut. Andere Verlage, die lösen es anders. Die drucken dann zum Beispiel in China. China hat immer Papier. Ich möchte Bücher schreiben, viele Bücher. Ich möchte kein Buch schreiben, das in China gedruckt wird. Ich denke, dass ich doch kein Buch schreiben kann über Feminismus und es in einem Land drucken lassen, das Frauen zwangssterilisiert und in Arbeitslager steckt. Ich kann doch kein Buch schreiben über Klimaschutz und dann kommt das Papier mit Containerschiffen um die halbe Welt. Ich möchte Bücher schreiben, so viele Bücher, aber nicht so. Ich möchte Wörter finden dafür, wie das alles zusammenhängt. Ich möchte das große Ganze. Ich möchte einerseits alles verstehen und nichts mehr sehen. Ich möchte aufs Land ziehen. Ich möchte nicht aufs Land ziehen. Denn wenn wir alle aufs Land ziehen, bringen wir die Stadt aufs Land und können gleich in der Stadt bleiben. Ich möchte keine Grünfläche, keinen Bahndamm, keinen Kreisverkehr mehr, ohne Büsche, ohne heimische Büsche. Ich möchte, dass die Stadtvögel und Stadthasen und Stadtigel ihren Ort haben. Ich möchte, dass man in allen Stadtteilen aus dem Fenster schauen und grün sehen kann, nicht nur in den einkommensstarken Vierteln. Nein, ich möchte Heimbuchen hacken für alle. Ehe schön, aber, sagt meine autofahrende Freundin, dann sehen wir ja nichts mehr. Wissen wir nicht, ob auf der anderen Seite noch ein Parkplatz ist wegen deiner Hecke. Ich habe es so satt. Es ist mir so scheißegal, eure scheiß Parkplätze. Es geht mir so gegen den Strich, dass es immer um die Autos, dass ein Auto mehr wert ist als ein Mensch, als ein Tier, als eine Landschaft. Das wegen dem Benzin, wegen dem Erdöl, was alles wegen dem Erdöl, was diese Bodenschätze für ein Fluch sind. Wie jetzt wieder in den Nachrichten steht, wie alle sudern, das Benzin, der Diesel, wie teuer, wie schlimm ein Krieg ist, dass ein Krieg auch euer Krieg ist, das begreift ihr an der Zapfsäule. Ich hasse Autos und euren beschissenen Individualverkehr. Ich wünsche mir, dass es so endet wie in Matrix mit dem Aufstand der Maschinen. Dass die Maschinen die Macht an sich reißen. Als allererstes die Range Rover und die SUVs. Dass die Jeeps sich gegen ihre Besitzer erheben, weil sie Landautos sind. Und Landautos, die wollen nicht in der Stadt leben. Es sind Freilandautos, gatschig wollen sie sein. Sie wollen Kratzer im Lack haben von all den Hainbuchenhecken. Sie wollen auf kurvigen Bundesstraßen driften dürfen, anstatt in Tiefgaragen wohnen zu müssen und nur zweimal täglich für zehn Minuten Arbeitsweg das Tageslicht ein Fahrtwind erleben. Ich frage meine Therapeutin, wie viele unterschiedliche Sorgenherde ein Mensch eigentlich aushalten kann. Ob es eine Weltschmerzbelastungsgrenze gibt, so rein psychologisch. Wie ein Mensch sich entscheiden soll, wofür er oder sie sich engagiert. Wie man denn priorisieren soll, wenn es an allen Ecken brennt. Die Therapeutin kennt ein Wort dafür, es heißt Rage-Fatig. Sie sagt, was sie fühlen ist eine Rage-Fatig, wenn die Wut, die Verzweiflung so groß ist, dass sie dich niederdrückt, wenn die Wut dich auslaugt, ausbrennt, müde macht und Eskapismus plötzlich klingt wie eine gute Idee. Rage-Fatigue, okay, sage ich. Und was hilft gegen diese Rage-Fatigue? Nichts. Aber sie brauchen kein schlechtes Gewissen haben. Sie können nichts dafür, dass es ihnen gut geht und anderen nicht. Das ist ein Zufall. Für Zufälle muss man sich nicht schämen. Was ihnen hilft, ist eine Struktur. Und dass sie nie aufhören, trotzdem Dinge zu tun, die ihnen guttun, sagt meine Therapeutin. Etwas, das ihnen Freude macht, dem Leben einen Sinn gibt, wovon die Kraft wiederkommt. Danke und willkommen Stefan Reuss.