Ich lese den Beginn einer Erzählung, wenn es wieder losgeht, von einem Band, der im Herbst erscheinen wird. In letzter Zeit dachte Peuer immer wieder an diesen Film über den Zufall. Vor Jahren hatten sie den Streifen dieses polnischen Regisseurs ein paar Tage lang gespielt, bei katastrophaler Auslastung. Poir hatte sich den Film des Polen jeden Abend wieder angesehen. Ein Mann geht zum Bahnhof. An der Frage, ob er den Zug erreicht, entscheidet sich der Verlauf seines weiteren Lebens. Daher wurden auch drei Versionen der Geschichte erzählt. Am Ende stieg der Protagonist in ein Flugzeug, das beim Start explodierte. Der Filmemacher hieß Kieslowski. Später folgten noch mehrere Filme von ihm. Poyer erinnerte sich an einen Streifen mit Juliette Binouche. Der Film, der Zufall möglicherweise, hatte sich ihm aber am meisten eingeprägt. Wenn Poyer je etwas gelernt hatte, dann waren es zwei Dinge. Es brauchte fixe Regeln, sonst funktionierte nichts. Das hatte er vom Großvater gelernt, bei dem er aufgewachsen war. Und der Zufall spielte die Hauptrolle im Leben. Peuer hatte sich mit Robert oft darüber unterhalten. Du gehst aus dem Haus, überquerst die Straße, wie du es tausende Male vorher gemacht hast, übersiehst ein Auto, wirst überfahren und aus. Wenn du eine Minute oder auch nur ein paar Augenblicke früher oder später die Straße überquert hättest, wäre nichts passiert. Das war das Leben. Man überquerte ständig Straßen, die Autos fuhren an einem vorbei und nichts passierte. Bis dann plötzlich unvermutet der Zufall, das Schicksal, was auch immer, zuschlug. Noch skurriler. Du gehst aus dem Haus, du bist, sagen wir, 45 Jahre alt, du hörst ein leises Surren in der Luft und ein kleines Stückchen eines Meteoriten, kleiner als ein Golfball, fällt dir auf den Kopf und zerschlägt dir den Schädel. In einer Sekunde bist du tot. Du hast nicht einmal einen Wimpernschlag Zeit, über das Unglück nachzudenken. In Indien war das geschehen, es war erst ein paar Jahre her. Ein Busfahrer befand sich auf dem Weg zu seinem Fahrzeug und wurde von einem Meteoritenstück getroffen. Aus. Es war angeblich der erste rapportierte Bericht von so einem Vorfall. Die Wahrscheinlichkeit, durch einen Meteoriten ums Leben zu kommen, betrug 1 zu 200 Millionen. Die Wahrscheinlichkeit, von einem Blitz erschlagen zu werden, nur 1 zu 10 Millionen. Die Wahrscheinlichkeit von einem Blitz erschlagen zu werden nur 1 zu 10 Millionen, die Wahrscheinlichkeit an einem Verkehrsunfall zu sterben im Verhältnis dazu bloß 1 zu 15.800. Poyer war damals im Netz auf eine Seite gestoßen, die angab, wie hoch die Wahrscheinlichkeit war, einem derartigen Unfall zum Opfer zu fallen. Vielleicht waren das lächerliche Kopfspiele, aber Poyer hatte oft genug die Erfahrung gemacht, dass nicht viel dazugehörte, damit das Leben durch einen Zufall eine unerwartete Wendung nahm. Warum saß er jetzt mit Mitte 40 als Vorführer in einem mäßig florierenden Innenstadtkino mit vier Seelen? Die Vorführkammer war wie ein Nest, eine warme Höhle. Während der Projektor surrte und die Barmonitore flimmerten, die man zu beobachten hatte, blieb genug Zeit, seinen Gedanken nachzuhängen oder eben auch die Zeit, Filme zu schauen, so oft man wollte. Es war ein heißer Sommernachmittag. Die Massen drängten sich draußen in den Strandbädern und an den Badeseen. Die Kinos waren leer. Für die Nachmittagsvorstellung wurden gerade einmal vier Karten verkauft. Darunter war auch ein Junge, vielleicht war er elf, zwölf, dreizehn Jahre alt. Peuer entdeckte den Buben zuerst am Bildschirm. Er hing minutenlang am Einlass herum, verschwand dann wieder aus dem Blickfeld und kehrte später mit einem Cola und einer Tüte Popcorn zurück. Kurz bevor Poir den Film einschaltete, betrat er den Kinosaal noch einmal, um das Licht abzudrehen. Der Junge stand in der letzten Reihe und schaute interessiert nach hinten durch das Glasfenster in den Vorführraum. Er war schlank, schmächtig, ein Kind noch, mit blonden Haaren, die wirr von seinem Kopf abstanden. Poyer ging zurück in den Vorführraum und startete den Film. Vielleicht schlug seine innere Alarmglocke schon in diesem Moment an. Es gab Regeln, an die er sich eisern zu halten hatte. Eine hieß, nie mehr, nie mehr wieder. Und vor allem nie allein mit einem Halbwüchsigen, nie und nirgends. Poyer hatte sich mit dieser Sache auseinandergesetzt, hatte viel darüber gelesen, hatte gekrübelt. Er war ein paar Mal zu einem Psychologen gegangen, deswegen, er wusste nicht mehr, wann es begonnen hatte, hatte viel darüber gelesen, hatte gekrübelt. Er war ein paar Mal zu einem Psychologen gegangen, deswegen, er wusste nicht mehr, wann es begonnen hatte, dass er sich für Kinder, vor allem für Halbwüchsige, interessierte. Es gab einen Fachausdruck dafür. Jeder Mensch war anders, in jeder Hinsicht, auch sexuell. Es war eine Neigung, keine Krankheit. Du bist ein sensibler Mensch, hatte der Psychologe zu ihm gesagt. Du wirst deine Neigung in den Griff kriegen. Poir hatte sich Regeln verpasst. Da bemerkte er den Jungen wieder. Er stand in der letzten Reihe vor der Glasscheibe und schielte in den Vorführraum hinein. Der Junge drehte sich um, als er Poir hantieren hörte. Er war offenbar allein ins Kino gekommen. Wir sperren dann ab, sagte Poiré. Der Junge nickte. Um zum Ausgang zu gelangen, musste er an ihm vorbeigehen. Und? Spannend, der Film, fragte Poiré. Der Junge zuckte mit der Schulter. Geht so, sagte er. In der Hand hielt er eine halbe Tüte mit Popcorn. Becher nicht vergessen, sagte Poir. Der Junge reagierte sofort und ging an den Platz, an dem er gesessen war und fischte den leeren Cola-Becher aus der Halterung. Cool, sagte das Kind. Machst du das da oben, fragte er und deutete in Richtung Vorführkammer. Mein Job, sagte Poir, ist ganz schön heiß da drinnen. Stell ich mir spannend vor, sagte der Junge. Muss man das lernen, fragte er. Was meinst du? Das mit den Filmen, sagte der Junge. Ist schnell gelernt, sagte Poir. Passiert heute alles am Computer, sagte er. Interessiert dich das, fragte er. Ich muss jetzt nach Hause, sagte der Junge ausweichend. Wenn du mal Zeit hast, kann ich dir die Anlage ja gern zeigen, sagte Poir. Kannst ja wieder einmal kommen. Der Junge nickte. Ich heiße Albert, sagte Poir und streckte dem Kind die Hand hin. Justin, sagte der Junge und erwiderte den Händedruck. Na dann, bis zum nächsten Mal, sagte Peuer. Der Junge ging an ihm vorbei. Montag und Dienstag habe ich frei, sagte Peuer, sonst bin ich jeden Tag da. Ich kann dir die Vorführanlage gerne mal zeigen, meine ich ernst. Nächsten Mittwoch? Der Junge nickte. Im nächsten Augenblick war er durch den Ausgang verschwunden. Die Begegnung ging Peuer den ganzen Abend nicht mehr aus dem Kopf. Das kurze Gespräch hatte ihn aufgewühlt. Der Junge hatte ihm sogar seinen Namen genannt. Alles war so schnell geschehen, so unvermutet, so zufällig. Die Situation hatte ihn überrumpelt. Er hatte keine Möglichkeit gehabt, Nein zu sich selbst zu sagen. Was war das für eine Stimmung, eine Gefühlslage, die ihn blitzartig befallen hatte, als der Junge auf ihn zugegangen war? Poyer hatte gar keinen Ausdruck dafür. Hatte er Süße verspürt, eine Gier, Leidenschaft, Zärtlichkeit, Verlangen? War unvermutet geschehen, was er sich sieben Jahre lang verbeten hatte, ging wieder los, was nicht losgehen durfte. Er war dem Jungen nicht nachgestiegen. Er wusste nur seinen Namen, sonst nichts. Der Junge würde vielleicht wieder einmal in eine Vorstellung kommen, vielleicht aber auch nicht. Nichts war passiert, gar nichts.