Was ist das Buch? Das Buch wird heißen Wilde Jagd. Prolog. Mein Name ist Quintus Erlach. Ich bin 53 Jahre alt. Meine Frau hat mich verlassen, meine Tochter redet nicht mehr mit mir. Ich lebe im verfallenden Haus meiner verstorbenen Eltern und mein Hund, der gar nicht mein Hund ist, schnarcht. So etwas oder so etwas Ähnliches hätte ich in der Vorstellungsrunde gesagt. Allerdings gibt es keine Vorstellungsrunde, denn hier bin nur ich. Vor mir stehen eine Tasse Tee und ein Laptop, zu meinen Füßen liegt ein mittelgroßer Mischlingshund. Meine Sehnsucht nach Erkenntnis zwingt mich dazu, die Geschehnisse der vergangenen zwölf Tage aufzuzeichnen. Vielleicht hilft mir das dabei, mehr Klarheit zu erlangen, denn von meinem einst so gefestigten Weltbild ist nicht viel übrig geblieben. Das meiste habe ich selbst erlebt, weshalb ich so unmittelbar nahe und objektiv wie möglich davon berichten werde, auch wenn sich bereits mein Deutschlehrer auf dem Stiftsgymnasium über meine gelegentlich überbordende Fantasie lustig gemacht hat. Manches habe ich erst später erfahren, gemutmaßt, rekonstruiert, aber auch das soll in diesen Bericht einfließen. konstruiert, aber auch das soll in diesen Bericht einfließen. Mittwoch, 4. Juli 2018. Bei unserer ersten Begegnung hatte ich nur einen Gedanken. Das muss eine Verrückte sein. Sie steht zwischen Farnen auf der Lichtung, breitbeinig wie mit dem Boden verwurzelt, aber gleichzeitig strahlt sie etwas Schwereloses aus. Ihr kurzes kastanienbraunes Haar bewegt sich wie von Geisterhand, mal eine Locke hier, mal eine da, obwohl es eigentlich windstill ist. Die Frau lächelt und starrt gleichzeitig vor sich hin. Sie hält ein Stofftier in der Hand, dessen Art ich nicht bestimmen kann. Ist das ein Bär, ein Hund, ein Hase? Ich bin nicht in der Lage, ihr Alter zu schätzen. Die Frau kann ebenso Ende 30 sein wie Anfang 20. Weggetreten wirkt sie jedenfalls. Ja, verrückt. Wobei ich zugeben muss, dass weggetreten oder verrückt keine Wörter sind, die ein Wissenschaftler verwenden sollte. Aber es sind die einzigen Wörter, die mir dazu einfallen. Mein Weg führt direkt an ihr vorbei. Ich zögere, bleibe stehen. Zu merkwürdig erscheint diese Szenerie fast unheimlich. Hinter mir knackst und raschelt es im Dickicht. Ein Schauer läuft mir über den Rücken. Ich versuche zu schmunzeln. Zum Glück bin ich ein rationaler Mensch. Ich weiß, was Realität ist und was Fantasie. Ich weiß, was Einbildung ist, was Traum und was Wirklichkeit. Ich weiß, was handfest und beweisbar ist und was ein Hirngespinst. Ich kann untersuchen, ich kann analysieren, ich kann auseinanderhalten. Ich weiß, wo die Trennlinien verlaufen. Ich lasse mich nicht in die Irre führen. Schon gar nicht von einem Rascheln im Gebüsch von wehenden Haaren, einem entrückten Blick und einem undefinierbaren Stofftier. Als ich mich dem Waldweg folgend nähere, öffnet sich eine kleine Lücke in der Wolkendecke und ein Sonnenstrahl fällt direkt auf diese merkwürdige menschliche Erscheinung. Es sieht aus wie auf einem dieser barocken heiligen Gemälde. Dunkler Himmel und dann dieser eine Lichtstrahl, der die Begnadete erleuchtet. Als ich an ihr vorbeigehen will, nicke ich ihr so freundlich und unauffällig wie möglich zu, woraufhin sie die Arme in die Höhe reißt, als wollte sie die Sonne begrüßen. Ich zucke zusammen und ein noch heftigerer Schauer läuft mir den Rücken hinunter. Ich ärgere mich. Ich bin Wissenschaftler. Ich fürchte mich nicht. Ein Engel, haucht die Frau und sieht mich an. Sie hat fast runde und unglaublich helle Augen, deren Farbe schwer zu definieren ist, zwischen Türkis, Grau, Blau und Grün. Wie? frage ich und tue so, als würde ich mein Ohr näher halten, nicht ohne einen gewissen Sicherheitsabstand zu wahren. Ein Engel, wiederholt sie mit einer Stimme, die keinerlei Emotion ausdrückt, und dann einfach weggeworfen. »Macht nix«, rufe ich aus. Die Frau lässt die Arme sinken und sieht mich an. »Ein wertloses Ding«, sagt sie kopfschüttelnd. »Macht nix«, schreie ich, »macht nix«. Ich gebe zu, dass nun ich es bin, der möglicherweise wie ein Verrückter wirkt. Die junge Frau sieht mich verstört an. Die Spannung in ihrem Körper scheint plötzlich verschwunden. Sie lässt die Hand, in der sie das Stoff dir hält, sinken. Ohren hängen herab. Ein Hase, denke ich, das muss ein Hase sein. Ich räuspere mich und erkläre, macht nix, das ist mein Hund. Da kommt der Köter auch schon gelaufen, doch statt meine Nähe zu suchen, begrüßt er die junge Frau mit einer ungewohnten Überschwänglichkeit. Sie geht in die Knie und macht nix zu streicheln und zu liebkosen. Er schlägt ihr ungestüm über das Gesicht, sie lacht aus vollem Hals. Jetzt scheint sie ganz normal, so ein Süßer, sagt sie. Er gehört eigentlich Michaela, antworte ich, meiner Tochter. Sie mögen keine Hunde, Professor, fragt die Frau. Hat sie einen Akzent, eine weiche Melodie in der Sprache? Ich kann es ebenso wenig bestimmen wie ihre Augenfarbe. Woher wissen Sie das, frage ich. Ja, das merkt man sofort, antwortet sie und richtet sich auf. Deshalb kommt er zu mir und nicht zu Ihnen. Macht nichts, sie lacht. Schon, sage ich, aber woher wissen Sie, warum sagen Sie Professor zu mir? Sie sind doch der Professor. Ja, aber brauchen Sie Hilfe, fragt die junge Frau. Ich sehe sie verdutzt an. Wieso um alles in der Welt sollte ich die Hilfe einer Verrückten brauchen? »Ich liebe Hunde«, sagt die Frau. »Ich habe zu Hause auch einen. Er fehlt mir so. Wenn Sie wollen, kann ich in meiner Mittagspause spazieren gehen mit. Macht nichts.« Wieder geht sie in die Knie, um den Hund zu liebkosen. »Mir tut Bewegungung gut, sage ich. Sind Sie sicher, fragt sie zurück. Warum nicht, frage ich. Sie haben Schmerzen, sagt die Frau. Kann man sehen, dass ich hänke? Eigentlich hat das noch niemand bemerkt. Ich will weiter. Diese unheimliche Erscheinung abschütteln mich beutelnd wie ein Hund, wenn er stresslos werden muss. Wir müssen uns erst aneinander gewöhnen, sage ich. Ich meine, macht nichts und ich. Wir beide auch? Die junge Frau zeigt auf mich und nickt mir aufmunternd zu. Sie wirkt jetzt gar nicht mehr zerbrechlich, sondern bestimmt. Und wir werden uns aneinander gewöhnen. Sie werden mir helfen, Professor. Ich weiß es. Sie haben ein gutes Herz. Besonders an der letzten Bemerkung habe ich begründete Zweifel und langsam wird mir diese Begegnung zu schräg. Macht nichts, rufe ich. Komm, wir gehen. Die Frau streichelt noch einmal über den Kopf des Hundes und sieht mir ebenso selbstbewusst wie eindringlich in die Augen. Ich nicke ihr kurz zu und gehe los. Sie haucht mir einen Satz nach. Wir sehen uns wieder, Professor.