Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich möchte Sie sehr herzlich zur ersten Veranstaltung des Stifterhauses im heurigen Jahr begrüßen. Wir freuen uns, dass wir das heurige Jahr mit der Präsentation eines utopischen Romans beginnen können, mit einem Gedankenexperiment, das nach neuen Lösungen für Probleme des menschlichen Zusammenlebens sucht und sie in einer fiktionalen Realität ausprobiert. Vorgestellt wird heute der neue Roman von Ilja Trojanow, Tausend und ein Morgen erschienen, ist der MS Fischer Verlag. Ich begrüße Ilja Trojanow sehr herzlich. Vielen Dank, dass Sie zu uns gekommen sind. Besonders begrüßen möchte ich auch den Moderator des heutigen Abends, den Autor, Übersetzer und Literaturkritiker, Mag. Cornelius Hell. Zuletzt sind von ihm der Essay-Band Ohne Lesen wäre das Leben ein Irrtum, Streifzüge durch die Literatur von Meister Eckart bis Elfriede Gerstl, sowie die Übersetzung des Gedichtbands Variationen über das Thema Erwachen von Thomas Wenzlover erschienen. Ebenfalls herzlich willkommen. Ilya Trojanow war bereits wiederholte Male bei uns im Stifterhaus zu Gast, zuletzt im April des vergangenen Jahres und immer wieder habe ich, obwohl sie in vielen Dingen, vor allem im literarischen Stil, sehr unterschiedlich sind, Ähnlichkeiten bei Themen und weltanschaulichen Überzeugungen zwischen Ilija Trojanow und unserem Geniuslozi Adalbert Stifter festgestellt. Und das sage ich auch immer wieder, wenn Herr Trojanow zu Gast ist. der Trojanow zu Gast ist, auch Stifter glaubte, wie Ilija Trojanow es in vielen seiner Werke zu erkennen gibt, an die unbedingte und gleichmachende Würde jedes Menschen, an das Bereichernde jeder Diversität, an das Recht jedes Menschen auf Selbstbestimmung, an das wunderbare Potenzial der menschlichen Vernunft und an die Möglichkeit der Menschen, sich zum Guten hinzuentwickeln. Wie Stifter, so glaube ich auch, aus dem neuen Roman Ilija Trojanows erkennen zu können, sieht Trojanow in der Art, wie eine Gesellschaft mit Ungleichheit umgeht und sie bewertet, eine der wesentlichen Chancen oder auch Hindernisse für ein friedvolles Zusammenleben. Diversität, und über dieses Thema haben wir auch im April des vergangenen Jahres gesprochen, kann als bereichernd angesehen werden. Diversität an Begabungen, Vorlieben und Lösungsansätzen, Diversität, was Alter, Geschlecht, Nationalität und Religionszugehörigkeit betrifft. Diversität kann aber auch als beängstigend und störend empfunden und als Vorwand genutzt werden, eine Rangordnung unter den Menschen herzustellen, meist verbunden mit einer Ungleichverteilung von Ressourcen, Entwicklungschancen, Besitz und Ansehen usw. Hochmut, Selbstsucht, Macht, Tierzwang und Gewalt lehnt Trojanow, so lese ich Tausend und ein Morgen, wie Stifter jedoch in jedem Zusammenhang ab. Stifter hat in seinem als Utopie angelegten Roman der Nachsommer versucht auszuloten, ob es bei guten ökonomischen und familiären Rahmenbedingungen mithilfe idealer pädagogischer Maßnahmen gelingen könnte, Menschen zu selbstständig denkenden, respektvollen, gerechtigkeits- und friedliebenden, wohlwollenden, sozialen und zufriedenen Menschen zu erziehen. Stifter musste sich dabei den Vorwurf oder dafür den Vorwurf gefallen lassen, die menschliche Realität dabei völlig ausgeblendet zu haben, was meines Erachtens so nicht stimmt, aber das würde zu weit führen. Der Stifter gemachte Vorwurf würde bei Elia Trojanovs Roman Tausend und ein Morgen ins Leere gehen. Die Hauptfigur Sia lebt zwar bereits in einer solchen von Stifter erträumten und erhofften Gesellschaft der Zukunft, von Stifter erträumten und erhofften Gesellschaft der Zukunft. Doch es gibt in dieser Gesellschaft nicht nur noch Erzählungen von früher. Sia ist vor allem als Zeitreisende mit all den Unzulänglichkeiten und Problemen des menschlichen Zusammenlebens in der Vergangenheit, die wir heute nur zu gut kennen, konfrontiert. Mit großer Leidenschaft, die mich auch wieder an Stifter erinnert, versucht sie einerseits, wenn das möglich wäre, der gesamten Menschheit zu einem gerechten, beglückenden Leben zu verhelfen, andererseits aber auch Gefährdungen der Gemeinschaft auf der eigenen Zeitebene zu erkennen und gegen sie anzukämpfen. Zeitebene zu erkennen und gegen sie anzukämpfen. Mithilfe der beiden Zeitebenen in Tausend und ein Morgen können Fallen im menschlichen Zusammenleben und mögliche Lösungsansätze sehr gut vor Augen geführt und durchgespielt werden. Der Roman bietet bis hin zu von Trojanow gewählten Sprache und zu seinem literarischen Stil viel Gesprächsstoff. Wir dürfen uns also auf einen sehr anregenden Abend freuen. Ich bedanke mich bei Elia Trojanow und bei Cornelius Hell noch einmal für ihr Kommen und übergebe Ihnen die Bühne. Vielen Dank, liebe Frau Pinter. Einen schönen guten Abend Ihnen allen. Ich freue mich sehr, wieder einmal im Stifterhaus zu Gast zu sein und noch mehr darüber Ihnen den neuen Roman von Ilya Trojanow vorstellen zu können. Ilya Trojanow ist zweifellos einer der bekanntesten deutschsprachigen Autoren. Von seinen Büchern wurde der Roman Der Weltensammler sein erster großer Erfolg und ist am intensivsten mit seinem Namen verbunden. Vielleicht auch deshalb, weil dieses schöne Wort Weltensammler ja auch auf ihn selbst passt. Er wurde 1965 in Sofia geboren, floh als Sechsjähriger 1971 mit seiner Familie über Jugoslawien und Italien nach Deutschland. Bereits ein Jahr danach zog die Familie weiter nach Kenia, wo der Vater als Ingenieur arbeiten konnte. So wuchs Ilija Trojanow also im Grunde in Nairobi auf, unterbrochen durch einen dreijährigen Deutschlandaufenthalt. Dann kurz in Paris, 85 bis 89 in München, Studium der Rechtswissenschaft und Ethnologie, das Studium abgebrochen und zwei Verlage gegründet, die sich auf afrikanische Literatur spezialisierten. 1999 übersiedelte Elia Trojanow nach München, nach Mumbai, nach Indien. Und eben diese Auseinandersetzung mit Indien hat sich auch im neuen Roman Tausend und ein Morgen niedergeschlagen. 2003 bis 2007 lebte er in Kapstadt, heute, wenn er nicht gerade auf Reisen ist, in Wien. Warum ich das alles so genau anführe? Diese Erfahrungen auf drei Kontinenten hat nicht nur Weltsicht und Lebenshaltung von Ilya Trojanow geprägt, sondern auch sein Schreiben, seine zahlreichen Essays und Kolumnen und seine Romane. der das auf den Punkt bringt, wer nirgendwo dazugehört, kann überall heimisch werden. Und jüngst hat er, der immer wieder in den Medien präsent ist, sich einmischt in aktuelle Themen und Debatten, in einem Zeitgespräch den bemerkenswerten Satz fallen lassen, erst wenn die ganze Welt dir fremd ist, bist du ein freier Mensch. Fremde ist, bist du ein freier Mensch. Und im Roman Tausend und ein Morgen ist das Ideal des Weltweisen umgekehrt formuliert, in jeder Fremde heimisch werden. So wie ich nicht alle Bücher aufzählen kann, die Elia Trojanow aus dieser Perspektive geschrieben hat, kann ich Ihnen auch nicht alle Preise und Auszeichnungen nennen, die er dafür erhielt. Ich erwähne nur im Jahr 2000 den Adelbert von Chamisso-Preis, 2006, ganz wichtig, den Preis der Leipziger Buchmesse, 2007 Berliner Literaturpreis, 2009 Preis der Literaturhäuser, 2014 den Brüder Grimm-Preis, 2017 den Heinrich Böll-Preis und 2018 den Ehrenpreis des österreichischen Buchhandels für Toleranz in Denken und Handeln. Soweit also ein kurzer Rückblick, aber heute Abend geht es ja um Ilya Trojanov's neuen Roman Tausend und ein Morgen, der im Herbst vergangenen Jahres erschienen ist. In einem Gespräch hat der Autor selbst den Ausgangspunkt und die Intention des Romans so beschrieben, ich hatte die Nase voll von diesen ganzen apokalyptischen und dystopischen Entwürfen und habe mir überlegt, eigentlich brauchen wir mehr Zukunft, eine Zukunft, die zeigt, was das menschliche Potenzial sein könnte. So wie dem Autor ist es wahrscheinlich auch nicht wenigen Leserinnen und Leserinnen ergangen. Man wollte und gerade in einer Gegenwart, in der der Krieg wieder so deutlich sichtbar die europäische und die Weltbühne betreten hat, nicht noch ein Horrorszenario lesen, sondern eher einen Hoffnungsanker. Und da kommt der Roman Tausend und ein Morgen gerade recht. Eliatroianov sagt dazu, der neue Roman handelt von der Zuversicht, von der Hoffnung und dazu braucht es Imagination. Er handelt also vom offenen Fenster zu einer Vielfalt des Möglichen. Fall des Möglichen. Da fällt einem natürlich gleich einmal der Möglichkeitssinn von Robert Musil ein, der einem Mann ohne Eigenschaften dem Wirklichkeitssinn gegenüberstellt, aber noch mehr fällt einem der schon im Titel präsent gesetzte Bezug zu Tausend und eine Nacht ein. Und der Bezug ist vor allem in der Kraft des Erzählens. Da gibt es den wichtigen Satz, der sogar auf der Umschlagseite zitiert ist, Erzählen ist nichts anderes, als dem Tod die Zunge zu zeigen. Und sehr viel später in dem Buch steht einmal im religiösen Kontext der Satz, Gott kann alles, aber nicht erzählen, das können nur Menschen. aber nicht erzählen, das können nur Menschen. In dem Roman ist kombiniert eine Utopie und eine Zeitreise. Eine Utopie, Sie wissen, im Altertum gab es die Utopie der Paradieserzählung und es gibt bei Ovid die Utopie des goldenen Zeitalters, aber alles nach rückwärts projiziert hinter uns, hinter der jetzigen Menschheit. Irgendwann ist die Menschheit aus diesem Idealzustand herausgefallen. In der Neuzeit ist es dann mehr nach vorne projiziert worden und im Trojanows Roman ist die Utopie die Jetztzeit. Es ist schon erwähnt worden, die Hauptfigur Sia lebt in dieser Jetztzeit, in der niemand hungert, in der ökologisch alles in Ordnung ist. Es wird alles nach Möglichkeit wiederverwendet. Es gibt fast nur Passivhäuser. Auf die Erwähnung der Wörter Polizei, uniformierte Geld, was ist das, kennt man nicht mehr. Das Wort Verbrecher wird nicht benutzt. Konflikte werden mit intelligentem Mitgefühl oder mitfühlender Intelligenz gelöst. Man hat das Gefühl, dass das Schlagwort, das Ideal von Habermas, die herrschaftsfreie Kommunikation, bruchlos verwirklicht ist. Krankheiten und die Heilkunde haben sich geändert. Denn Krankheit ist keine anthropologische Konstante. Krankheit ist die Summe aller Lebensbedingungen und Umweltfaktoren, heißt es im Roman. Und natürlich ist das Müllproblem gelöst und es gibt keine Giftdeponien mehr. Eine besonders schöne Idee, es gibt ein flüssiges Denkmal. Das heißt eine Demokratisierung der Denkmalkultur, weil es ja viel mehr Menschen gibt, die es wert sind, dass ihre gedacht wird. wechselbaren, flüssigen Denkmal, sind Denkmäler im Wandel begriffene Einladungen zum Gespräch. Ja, Ilya Trojanow hat gesagt, beim Schreiben dieses Romans hat er selber viele Zeitreisen unternommen und wer es liest, wer den Roman liest, wird mitgenommen auf diese Zeitreisen. Da kommt man einmal zu den Piraten in der Karibik, etwa um das Jahr 1722, Beginn des Kolonialismus, auch des Kapitalismus, das heißt einmal so nebenbei als Meeresströmungen zu Kapitalströmungen wurden. Dann kommt man in ein Bombay der nahen Zukunft, das eben Ilya Trojanow sehr gut kennt, landet dann plötzlich bei den Olympischen Spielen 1984 in Sarajevo und am Schluss in den entscheidenden Jahren der russischen Revolution 1917-18. Der Autor hat auch die Struktur des Romans mit einer Symphonie von Shostakovich verglichen, mit stilistisch sehr verschiedenen Sätzen, mit einem Presto, einem langen Eröffnungssatz, mit einem grotesken Satz, das wäre das Sarajevo-Kapitel. Und am Schluss, wo viele Motive noch einmal aufgegriffen, variiert werden und ein Moment der Erhöhung, vielleicht sogar der Verheißung eintritt. Die wichtigste Person, schon erwähnt, ist Sia, die Kronautin, also eine Zeitreisende. Ihre zentrale Frage ist Geschichte nicht das, was anders verlaufen hätte müssen. Sie will also zurückreisen, die neuralgischen Punkte der Menschheitsgeschichte finden und dort etwas ändern. Und eines der schönen Motte des Romans heißt dann, Geschichte ist das, was anders hätte verlaufen können. Geschichte ist das, was anders hätte verlaufen können. Sie ist eine junge Frau, die sie von Anfang an durch ihre Neugier auszeichnet. Alles, was sie erlebt auf diesen Zeitreisen, empfindet sie als Gegenwart, auch die Menschen, die leidenden Menschen von früher. Und dieses früher wird immer genannt, damals dort. Es ist auch ein wichtiges Zitat, es ist schwer, schmerzhaft schwer, jene Stelle zu finden, an der die Drehtür der Geschichte aus den Angeln gehoben werden könnte. Und sie hat eine Schwierigkeiten, die alle Historiker des Alltagslebens auch haben, nämlich weder Piraten noch Matrosen noch Sklaven, haben Zeugnisse hinterlassen, bis auf wenige Ausnahmen. Wenn es um Piraten und Matrosen geht, eine wunderbare Idee dieses ersten Kapitels, was wäre gewesen, wenn die Piraten und die Aufständischen gegen die Sklaverei, also die Schwarzen, die sich entweder widersetzt haben oder geflohen sind, um nicht verkauft zu werden, wenn die sich zusammengetan hätten, hätten die etwas ändern können. Eine wichtige Person oder Ebene ist auch Gorg genannt, nämlich die künstliche Intelligenz. Die mischt sich ein, die schreibt sich ein, die kommentiert manchmal, wo man es nicht will, die übersetzt, wo sie ja irgendeinen Satz in Sanskrit oder einer anderen Sprache nicht versteht. Es gibt auch, abgesetzt grafisch, normalen Blocksatz und es gibt rechtsbündige Passagen, Dialoge, die voneinander abgesetzt sind. Und was ich finde, erzähltechnisch war es das Interessanteste, es gibt immer wieder fett gedruckte Sätze, die aussehen wie Überschriften, aber eigentlich Bindeglieder sind, die zum Vorigen wie zum Nächsten gehören, aber eine Perspektiveänderung markieren. Es gibt wunderbare Worterfindungen. Spießfragenlauf zum Spießrutenlauf. Wiederdenken, also wenn man widersprechen kann, kann man auch wieder denken. Oder Ausdrücke wie ein ungemütlicher Wind herbstet sich ein. Oder Fersenhockend, wenn man so auf den Fersen sitzt. Oder ein Unterling, Unterläufer, ein Untergebener. Also nach den Regeln der Grammatik gebildete Wörter, die es geben könnte, aber in der deutschen Sprache, man kann es doch nicht, dann sind es gerade solche Worterfindungen, die wie Blitze aufleuchten und einen immer wieder ganz nahe am Lesen halten. Soweit, so gut. Sie können jetzt, wenn Elia Trojanow das erste Stück liest, selber diese Leseerfahrung testen. Ich bitte um die erste Lesung. Vielen Dank, vielen Dank für Begrüßung und Einführung. Ich weiß gar nicht, was ich jetzt noch sagen soll. Eigentlich ist fast alles gesagt. Sie fragen sich vielleicht, wieso Piraten? Schönen guten Abend übrigens. Hallo. Wieso Piraten? Ich könnte Ihnen jetzt natürlich sehr viel Intellektuelles sagen und es würde teilweise stimmen, aber ich glaube, der Hauptgrund ist, dass ich als Kind Piratengeschichten geliebt habe. Ich habe auch Robin Hood-Geschichten geliebt, auch Schindahannes. Ich habe Michael Kohlhaas nicht nur geliebt, ich liebe die Geschichte immer noch. Nicht nur gelebt, ich liebe die Geschichte immer noch. Ich habe mich gefragt, woran liegt es, dass diese Geschichten von Menschen, die ausbrechen, die eigentlich gegen die zivilisatorische Norm aufbegehren, wieso diese Figuren, diese Topoi uns gerade, wenn wir jung sind, so sehr faszinieren und beseelen. Das heißt, es ist etwas in uns, was widerständig ist oder widerständig sein möchte, zumindest in der Fantasie. Etwas, was einem anderen Ideal von Freiheit folgen möchte, etwas, das aus dem Alltag ausbrechen müsste. Etwas, was das fremdbestimmte Leben in irgendeiner Weise zu einem eigenen, selbstgestalteten Leben verändern möchte. Und das war bei den Piraten so. Das ist die persönliche, lustvolle Begründung. Die literarische ist natürlich, das haben Sie gerade gehört, es gibt fast keine Quellen über die Piraten. Wir wissen sehr wenig. Das ist natürlich eine Einladung an einen Schriftsteller. Was gibt es Besseres, als die weißen Flecken der Geschichte mit der eigenen Fantasie zu füllen? Es kann auch noch niemand kommen mit einem erhobenen Zeigefinger und sagen, es war ganz anders. Wir wissen schlichtweg nicht, wie es war, aber einiges wissen wir schon. Es gibt wenige Quellen, aber es gibt natürlich die Gerichtsverhandlungen gegen die Piraten und es gibt einige wenige Beschreibungen von Reisenden, die bei den Piraten waren und dann in die Zivilisation zurückgekehrt sind und darüber berichtet haben. Und siehe da, die Piraten waren teilweise aus heutiger Sicht, aus dem, was wir heute als gesamtgesellschaftliche Ideale oder Übereinkünfte begreifen würden, uns sehr nahe. Sie waren sehr progressiv. Nur ein Beispiel, sie haben wahrscheinlich die erste allgemeine Krankenversicherung erfunden. Finden wir heute, ich hoffe, Sie sind meiner Meinung nach sehr gut, ich bin sogar für die Abschaffung jeglicher privaten Krankenversicherung. Und zwar gibt es da ein Dokument, dass die Piraten von der Beute einen bestimmten Anteil in eine Kasse zahlen. Und aus dieser Kasse werden dann die medizinischen Kosten beglichen, auch die Kosten für eine Kompensation von Verlust von Gliedern, was damals wohl öfter vorkam. Es ist dann festgelegt, wenn man einen Arm, ein Bein verloren hat, wie viel man aus der allgemeinen Kasse bekommt. Ein anderes Beispiel, was ich sehr schön fand, es gab eine Pirateninsel namens Tortuga. Die gibt es immer noch, die Insel, keine Piraten, die liegt heute in Haiti und die Frauen sind dort, es gab eh wenige Frauen und die sind auch, weil es Indigene waren, gestorben, überwiegend an Krankheiten. Irgendwann mal war es eine reine Männerwelt. Also hat die Liebe sich natürlich adaptiert, wie es Liebe so an sich hat. Und die Männer haben Beziehungen miteinander gehabt. Das Interessante ist nur, dass diese Beziehungen tatsächlich vertraglich festgelegt wurden. Es gab etwas, das hieß Matelotage. Es war ja die Sprache dort Französisch, beziehungsweise eine Art Creole, also eine Pitschensprache. Und in diesem Matelotage wurde sozusagen die gleichgeschlechtliche Ehe vorweggenommen. Das Faszinierende daran ist allerdings, dass es keine Gerichte gab. Das heißt, auch das ist eine interessante Frage, wieso der Mensch meint, dass so ein Stück Papier in irgendeiner Weise verpflichtender ist, als der Blick ins Auge, in die Augen des Gegenübers und eine verpflichtende gegenseitige mündliche Erklärung. Nicht ganz unironisch das Ende dieser kurzen Epoche des Gleichgeschlechtlichen in der Karibik. Der französische Staat hat natürlich so reagiert, wie nur der französische Staat reagieren könnte. hat natürlich so reagiert, wie nur der französische Staat reagieren könnte. Er hat ein Schiff voller Postituierten nach Tortuga geschickt und damit der Mattelo Tarsch den Garaus gemacht. Das war das Ende, dann dauerte es 200 Jahre, bis wir wieder angeknöpft haben. Ich erzähle das deswegen, weil Sie merken, wie solche kleinen historischen Details sofort die Fantasie anregen. Vor allem, wenn die Fantasie darauf ausgerichtet ist, zu fragen, was hätte wie anders sein können. Und das ist für mich der Ausgangspunkt des utopischen Denkens, dass man sich nicht mit dem zufriedenstellt, was ist und was war, sondern dieses offene Fenster in die Vielfalt der Möglichkeiten immer wieder aufreißt und sich fragt, wie könnte der Mensch, wie könnte die Gesellschaft sich anders organisieren, verhalten, zueinander stehen. zueinander stehen. Sie reist also zu diesen Piraten. Sie will einen Piraten, der ihr aufgrund der Gerichtsquellen sehr interessant erschien, ein Pirat mit dem Namen Fliege, den will sie retten vor dem Erhängen. Das gelingt auch, allerdings erweist sich der Pirat als eine Frau. Und auch das gab es mehr, als ich gedacht habe. Es gab relativ häufig damals Frauen, die ausgebrochen sind aus ihrem erniedrigenden Alltag, indem sie sich verkleidet haben und auf Schiffe gegangen sind. Und manche von denen wurden natürlich auch Piratinnen. So, und jetzt sind die beiden auf der Flucht, Zieher und Fliege. Und sie wurden gerade von einem spanischen Schiff, von einer Galeone, aufgesammelt. Es herrscht Flaute, die Galeone dümpelt vor sich hin. In der Ferne könnte noch Land sichtbar sein. Die Zeit wird zum Saubermachen genutzt. Zwar befinden sie sich nicht auf einem schmutzigen Schiff, aber selbst das sauberste Schiff ist niemals sauber. Das Deck wird abgeschliffen mit Sand und bibelschweren Stein. Als alles geschrubbt und gescheuert ist, wird die Arbeit vom ersten Mat abgenommen, während die Seemänner seines Urteils harren, neben Eimern mit Bürsten in der Hand, regungslos bis auf einen, der sich am Gesäß kratzt. Nach beendeter Prüfung wird zu einem Amüsement gerufen. Divertido y gracioso, verspricht der Kapitän. Am Großmast gedränge. La Cucagna, ruft der Steuermann aus. Oben lockt der Preis. Was für ein Preis? Fragt sie ja. Die Antwort? Mal Rauch schenken, mal Unsterblichkeit. Zunächst spricht der Kapitän in schwer gewirkten Worten. Er habe dort oben einen Schuh anbringen lassen. Im Namen seiner Majestät habe er zu verkünden, dass der Preis eine Sandale sei, keine beliebige. Er bilde sich nicht ein, dass die versammelten Taugenichtse wegen einer Sandale hinaufklettern würden, selbst wenn eine indianische Prinzessin sie getragen habe. Diese Sandale sei eine besondere, mit einem Zehenflock aus Gold. Ja, ihr habt richtig verstanden, aus reinstem Gold, mehr wert als der Lohn eines ganzen Lebens. Wer die Sandale zu greifen bekommt, der darf sie behalten. Wie alle anderen blickt auch Sia hoch. Nichts zu erkennen, so weit hinauf reicht der Mast. Niemand kann sich sicher sein, ob der Preis jenseits des Ehrenwortes des Kapitäns existiert. Dort oben, wo der Hauptmast sich in den Himmel bohrt Die Männer haben lose gezogen, um die Reihenfolge zu bestimmen Jene, die gewonnen haben, stehen am Mast Reiben sich die Hände ein mit Holzspähen Ein Trommelschlag Der vorderste springt den Mast hinauf Die ersten Meter bewältigt er scheinbar mühelos Getragen von Sprungkraft und Euphorie Bald schon wird sein Fortschritt gebremst mühelos, getragen von Sprungkraft und Euphorie. Bald schon wird sein Fortschritt gebremst. Seine seilstarken Arme rutschen ab. Er gewinnt zwei Fuß, verliert einen, gewinnt einen Fuß, verliert zwei, bis die Mathematik der Rutschkraft ihn zurückholt. Erschöpft fällt er aufs Deck, die anderen Seemänner lachen. Häme überzieht das Gesicht des Kapitäns wie dick aufgetragenes Rouge. Sia schüttelt kaum merklich den Kopf. Das ist schwierig. Es ist mehr als schwierig, Signorita. Wieso? Weil der Mast mit Schweinefett eingeschmiert ist. Wer soll es schaffen? Niemand. Es sei denn, die Männer bilden eine Pyramide. Sie haben einen scharfen Verstand, verehrteste, für Theorie. Sir beobachtet gebannt, wie sich einer nach dem anderen abmüht. Manche gelangen weit hinauf, gewiss keimt Hoffnung in ihn auf, auch wenn sie spüren, wie ihre Kräfte ermatten. Die Hoffnung fällt ins Bodenlose und der Seemann hinab. Der Kapitän beäugt sie. Seniorita, haben Sie etwas noch nie gesehen? Nein. Eine Maßnahme zur Stärkung der Moral. Gut, wenn die Männer spüren, dass die Lösung aller irdischen Sorgen so nahe ist, fast zum Greifen nahe. Und dann doch wiederum nicht. Trotzdem tröstlich. Ich verstehe nicht. Die Männer haben eine diebische Freude daran, dass es den anderen auch nicht gelingt. Was ist die Vergeblichkeit? Einfältig. Keiner, der jung und gesund und krä Kräftiges verzichtet auf seinen Versuch. Das Scheitern der anderen beweist noch lange nichts. Seemann nach Seemann fällt auf das Deck, während die Sonne stetig nach oben steigt. Kaum hat sich der kollektive Ehrgeiz erschöpft, ändert sich die Stimmung, die Männer weichen voneinander, als wüssten sie nicht, wer unter ihnen ansteckend ist mit dem Miasma des Pechs. Sie blicken auf ihre Hände. über ungehorsame Kinder, über missachtete Befehle, über blasphemische Flüche, über Strafen, die Segen seien. Dieser Kapitän gehört nicht zu jenen, die höchstpersönlich auspeitschen. Er steht dem verabreichten Schmerz aufrecht vor. Das darf es nicht geben. Nie in ihrem Leben hat sie so etwas, wie kann es. Sieher zischt Fliege ins Ursee. Sie müssten etwas tun, diese Männer befreien, eine Meuterei anzetteln. Du bist verrückt, antwortet Fliege. Ich kann kein Spanisch und du bist eine Frau. Mich versteht keiner und auf dich hört keiner. Das endet am Galgen. Zurück daheim, also in der Utopie. Sia nimmt einen Umweg durch den Auwald, einen unebenen Weg entlang zu beiden Seiten pappeln. An müßigen Tagen verläuft sie sich absichtlich, um etwas zu finden, was sie nicht sucht. Als sie das erste Mal im Wald war, zusammen mit Onkel Host, hatte er einen der Bäume umarmt. Als Dank. Er hatte tief eingeatmet. Wofür? Als Dank für den Sauerstoff. Sie hatte gestaunt, dass drei Pappeln tausend Menschen Lebensatem geben. Das bedeutet, hatte Onkel Horst hinzugefügt, dass dieser Wald alle angrenzenden Nachbarschaften beatmet. den Nachbarschaften beatmet. Beim zweiten Mal durfte sie klettern. Baumsteigen hieß der Lernstoff des Tages. Ins dichte Astwerk der Weiden zunächst, dann auf die Erlen, um mit einer Krone aus flatternden Füchsen aus dem Laub zu schauen. Und schließlich auf die Pappeln zur Wipfelprüfung des Tages. Baumsteigen war ihr Lieblingsfach. Wolken sammeln auch. Gibt es eine lohnendere Beschäftigung? So ihre Mutter. Hierzulande finden sogar verschlossene Augen eine Wolke. Nur Geduld, manchmal dauert's ein wenig. Und nach jeder ihrer Reisen schwärmte Mutter. Wolken. Das können die Leute dort. Wir aber auch. Weißt du, um weilelang zu variieren, können die Wolken geschubbt werden. Manchmal sind sie ein wenig angestaubt. Schrubben ist einfacher als Baumsteigen. Ein Schrubbspruch genügt. Siru siru cumulus cumulonimbus. Siru siru cumulus cumulonimbus. Ja, und wer sich satt gesammelt hat, darf auf die kleineren Bäume klettern. Seitdem zieht sich Sia in den Auwald zurück, wenn etwas sie beschäftigt, hockt nachdenklich auf morscher Erde, hievt sich an einem dicken Ast hinauf, wirft die Traurigkeit ab, lässt das Leben baumeln. Leicht tritt sie auf, barfuß, die Sandalen in der linken Hand, unter ihren sohlen pappelschnee kniend ergreift sie eine handvoll streut sich die samen über den kopf wie sie wohl aussieht mit weißen haaren die heimkehr fühlt sich an wie fremdkehr. Alles so friedlich. Sie hat das Gefühl, ihre innere Unruhe könnte der Umgebung Schaden zufügen. Sie betrachtet die Passantin aufmerksamer als üblich. Niemand, der sich dahinschleppt, niemand mit Qual im Gesicht, mit Schrecken in den Augen, niemand, der nach ihr giert. Was würden die Paraten sagen über diese irre Welt? Zaunlos, mauerlos, ohne Hecke, ohne Gewehr, ohne Kakerlaken, die einem die Haut von den Fußsohlen abnagen, ohne in Urin gebleichte Kleidung, ohne Peitschen, ohne Fesseln, ohne Kapitän und ohne Generäle, ohne Kielholen, ohne an den Mast genagelte Hände, ohne einen Grund zu rauben, ohne einen Grund zu stehlen, ohne Zwang Schildkröten zu essen, Ohne Zwang Schildkröten zu essen. Ohne Hunger. Das würde die Menschen von damals dort am meisten beeindrucken. Niemand hungert. Niemand isst von Maden zerfressenes Schweinefleisch. Und niemand klopft mehr auf Holz. Sie erwandelt weiter auf Pappelschnee. Eine Figur erhebt sich vor ihr, spaltet den Pfad. Sie hält inne. Vor ihr auf einem Sockel ein Mann mit dürren Beinen. Ein technisch brillanter Kopf, so die dargebotene Information, dem einige wichtige Neuerungen zu verdanken seien, darunter die Erfindung des flüssigen Denkmals. Sie erschmunzelt, na wie angemessen, mit einem flüssigen Denkmal den Erfinder desgleichen zu ehren. Er hat es ermöglicht, dass viele verschiedene Menschen gewürdigt werden können. Am Nachmittag jemand anderes als am Vormittag. Im Frühjahr eine Frau, die eine bakterielle Entgiftungsanlage entwickelt hat. Im Herbst ein Mann, der ein Leben lang nichts anderes getan hat, als Töne und Pausen ineinander zu legen. Und wer wann geehrt wird, hängt allein von den Neigungen in der Nachbarschaft ab. Alle sind eingeladen, Vorschläge zu unterbreiten und zu debattieren. Einst waren Denkmäler hässliche Objekte zur Verhinderung des Denkens. Jetzt sind sie im Wandel begriffener Einladungen zum Gespräch. Und ohne diesen spindeldürren Erfinder hätte die Diskussion, wie Menschen zu ehren sein, keine so gelungene Lösung gefunden. Nachdem der öffentliche Raum befreit worden war von allen bleiernden Lasten, forderten viele sich von der Idee des Monuments zu verabschieden. Marmor und Bronze waren nicht mehr zeitgemäß. Zudem es gab viele, die Bewunderung verdienten, all jene, die sich aufgeopfert hatten für das Wohl anderer, die getötet worden waren im Kampf für die Rechte aller, die vorausgeträumt hatten, was Glücklichkeit geworden war. Wer unter den vielen sollte auserwählt werden? Es gab Ideen ohne konkrete Umsetzung. Bis dieser altmodische Mann das flüssige Denkmal austüftelte. Sie ergrüßt den Innovator mit einer Verbeugung, die dieser mit einem übertriebenen Augenaufschlag erwidert. Sobald sie ihm den Rücken zukehrt, wird er erstarren. Wieso hat sie selbst noch nie jemanden zur Ehrung vorgeschlagen? Wieso nicht eine Piratin, so zur Abwechslung? So zur Abwechslung. Und nachdem Sie die wichtige theologische Frage vorhin aufgeworfen haben, ob Gott erzählen kann, ist eine ganz kurze Szene, will ich Ihnen sagen, wo das herkommt und wie das diskutiert wird. Und zwar ist das im endischen Kapitel und es betrifft eine alte hinduistische Geschichte, Legende, Mythos, der folgendermaßen geht. Revati, die Tochter des Königs Kakudmi, war so schön in ihrer Gegenwart erblindeten oder verstummten die Verehrer, erwiesen sich ihrer nicht würdig. Weswegen der König, voller Sorge, sie nie vermählen zu können, den Herrscher aller Universen aufsuchte, um seinen Rat zu erbitten. Als er mit seiner Tochter eintraf, lauschte Brahma gerade einer musikalischen Darbietung. Vater und Tochter mussten warten, bis die Vorführung beendet war, worauf der König sich verbeugte und sein Anliegen vortrug. Brahma lachte. Ein Lachen, das allen, die nicht Brahma waren, Angst einflößte. Die Zeit, erklärte er, verlaufe ungleich in den unterschiedlichen Sphären des Seins. Zeit sei nichts anderes als eine Maßeinheit für Endlichkeit. In der Ewigkeit, wo er sich aufhalte, gebe es für Zeit keine sinnvolle Verwendung. An dieser Stelle muss die Geschichte kurz unterbrochen werden. Diesem Mythos liegt ein Denkfehler zugrunde. Wenn Gott die ewige Gegenwart bewohnt, der Mensch aber die Unendlichkeit nur als Verheißung erfahren kann, handelt es sich um zwei verschiedene Realitäten, die sich nie berühren können. Zeit und Zeitlosigkeit können nicht in ein und derselben Raumzeit existieren. Wie also sollen die Menschen aus dem einen in den anderen Zustand gelangen? Denkbar wäre das erst am Ende der Zeit an sich. Aber jede Existenz, die mit der Geschichte verwoben ist, würde verschwinden. Es kann logischerweise keinen Übergang für den Menschen in die Zeitlosigkeit geben. Zehntausend Menschenjahre können einer göttlichen Sekunde gleichen, erklärt Brahma. Während Kakudmi der Musik gelauscht habe, seien 27 Chatur-Yugas vergangen und zur Erklärung, ein Chatur-Yuga entspricht 108 Yugas und ein Yuga entspricht 4.320.000 Jahren. Alle Männer, die als Schwiegersöhne in Frage gekommen wären, seien längst verstorben, selbst ihre Namen seien vergessen. Namen seien vergessen. Der König sei jetzt allein, ohne Freunde und ohne Minister und ohne Diener und ohne Ehefrauen und ohne Armee und ohne Reich und ohne Zeit. So leicht lässt sich ein Problem lösen. Der König war zutiefst bedrückt. Brahma tröstete ihn. Vishnu halte sich gerade auf Erden auf und er, Brahma, werde ihm des Königs Tochter als würdige Ehefrau anempfehlen. Kakudmi und seine Tochter kehrten zur Erde zurück, die sie erst vor kurzem verlassen zu haben glaubten. Sie waren überwältigt von den Veränderungen. Nicht nur die Landschaft, nicht nur die Umwelt. Auch was die spirituelle und kulturelle Entwicklung der Menschheit betraf. Die Menschen waren geschrumpft. Sie waren schwach geworden, sie wurden beherrscht von Affen, sie dienten Elefanten. Nach einem einzigen göttlichen Konzert war alles auf den Kopf gestellt und nirgendwo ein Ehemann für die schöne Revati zu finden. Denn Vishnu hielt es nicht lange aus bei diesen erbärmlichen Kreaturen, die vergessen hatten, dass sie sich einst Mensch nannten. Ja, aber wer erzählt diese Geschichte? Brahma angeblich, der ist ja allwissend. Aber er ist auch zeitlos. Und das bedeutet, dass für ihn alles jederzeit gleichzeitig stattfindet, ohne ein Davor und ohne ein Danach, ohne Anfang und ohne Ende. Wie soll Brahma, der alles auf einmal wahrnimmt, zu einer für das Erzählen nötigen Chronologie und Kausalität gelangen? Gott kann alles, aber nicht erzählen. das können nur wir Menschen. Gerade am Anfang haben wir eine Passage gehört, wo sie ja entsetzt war von dem, was sie da sieht, von dieser Auspeitschungsszene und dann zum Kontrast, wie gut es jetzt ist. Es gibt aber doch, also ein Satz heißt einmal, jede Kronautin verteidigt die Epoche, die zu verändern sie aufgebrochen ist. Während sie auf eine Umwälzung hinwirken, begegnen sie der Fremde mit wachsendem Verständnis. Woher kommt dieses Verständnis, wenn doch die Gegenwart so gut ist? Das liegt an den verschiedenen Eigenarten des Menschen, der ja, wie Sie alle wissen, ein extrem komplexes, widersprüchliches Wesen ist, was man den heutigen Debatten nicht anmerkt, die ja im Moment dazu tendieren, irgendwie zu relativ simplifizierenden, primitiven Einseitigkeiten. Das ist aber der Mensch natürlich nicht. Er ist erstaunlicherweise ja in der Lage, sich dann irgendwann mal zu identifizieren, sich emotional und emphatisch mit etwas in Beziehung zu setzen, was er durchaus skeptisch oder vielleicht sogar antagonistisch zunächst aufgesucht hat. Und das ist ja dieses Wunder der menschlichen Empathie, das ist ja eine Annäherung an etwas, was man zuvor entweder nicht verstanden hat oder abgelehnt hat, aber durch die intensive Begegnung, durch das Hineintreten in einen Raum geteilter Intimität entsteht ja oft ein Verständnis für das Unverständliche, wenn man sich darauf einlässt, also wenn man sozusagen nicht in einer harschen, starren Haltung der Besserwisserei oder des Vorurteils verharrt. Wenn man diese Offenheit hat, Sie haben es ja gesagt, sie ist sehr neugierig, sie ist sehr offen. Ich sehe sie sehr offen. Wenn man sich mit so einer Haltung auf das Andere oder Fremde einlässt, verändert man sich selber ja auch. Und das ist ja das Wunder des Reisens. Sie haben es ja gesagt, das sind Zeitreisen. Und insofern sind das ja auch Reisen. Und Reisen, wenn man wirklich reist, ist ja eines der Wunder des Reisens, dass man selber verändert wird. Das heißt, es ist nicht nur ein Prozess der Erkenntnis, sondern auch eigentlich ein Prozess, in dem man selber fast eine Metamorphose durchlebt. Und je intensiver man reist, desto intensiver ist auch die Möglichkeit dieser Metamorphose. Und Sia ist, glaube ich, die intensivste Reisende, die ich mir vorstellen kann. Was Sie am Anfang erzählt haben von der Karibik, das haben Sie wahrscheinlich nicht alles in den Piratenromanen gelesen, sondern sehr viel auch recherchiert. Und ich denke auch bei den nautischen Ausdrücken. Es sind nicht gerade so viele wie in Standard Oldness, Entdeckung der Langsamkeit, aber es sind viele Schiffsformen, es sind viele Ausdrücke, die ich googeln musste, wenn man sie so nicht kennt. Wie hoch war da der Rechercheanteil? Naja, das ist bei mir immer sehr hoch. Also Sie haben den Weltensammler erwähnt, das waren fünf Jahre Recherche und zwei Jahre Schreiben. Ich bin für den Weltensammler zum Beispiel zu Fuß durch Tansania gegangen, weil ich unbedingt damals die Reise von Richard Burton nachvollziehen wollte. Ich bin auf Hatsch gegangen, so wie er auch, nach Mekka und Medina. Und hier war es ähnlich. Ich war natürlich auch in der Karibik. Ich habe alles gelesen, was ich finden konnte. Der Grund ist nicht ein pedantischer. Also es ist nicht so, dass ich den Historikerinnen Konkurrenz machen möchte. Der Grund ist, dass die Recherche den Tisch dann mir gibt, einen soliden, festen Tisch, auf dem ich dann mit der Fantasie etwas anrichten kann. Das heißt, die Möglichkeit, meine Fantasie völlig frei spielen zu lassen, hängt davon ab, dass ich eine gewisse solide Grundlage habe, ein Fundament der Kenntnis und Erkenntnis und dann kann ich sozusagen aus diesem sicheren Verständnis heraus dann mich völlig austoben. Und insofern war die Recherche wieder sehr aufwendig, wie immer. Bei Sarajevo war es so, ich habe dort ein Semester an der Uni unterrichtet. 1984? Nein, ich war kein Wunderkind. Nein, vor einigen Jahren. Und ich bin draufgekommen, insofern ist dieses Kapitel, Sie haben ja gesagt, das ist ein groteskes Scherzo. Grotesk durch die vielen Geheimdienste. Genau, ich bin draufgekommen dort in Gesprächen mit vielen Menschen, die unter anderem der letztes Jahr verstorbene enge Freund von mir, Jevat Karahasan, einer unserer großen Erzähler. Ich bin draufgekommen, dass das ganz außergewöhnliche Olympische Spiele waren, weil die ganze Welt wie immer zu Gast an einem Ort ist. Das ist ja bei jeden Olympischen Spielen so. an einem Ort ist, das ist ja bei jedem Olympischen Spiel so, aber dort war das Verhältnis zwischen Funktionären und Sportlern besonders zugunsten der Funktionäre. Es gab nie so viele Funktionäre wie in Sarajevo. Und da habe ich ein bisschen recherchiert und der Grund ist klar, das war in einem neutralen Land, in einem sogenannten blockfreien Land. Es waren die letzten Jahre des Kalten Krieges und alle Geheimdienste sind da zusammengekommen. Und ich habe mir gedacht, das ist grandios für einen Roman, weil die Fassade ist ja eine der unglaublich laut und bombastisch beschworenen Völkerverständigung. Die Völker kommen zusammen, um sich jung, gesund und prächtig miteinander zu messen. Und dahinter ist sozusagen der letzte Showdown des Kalten Krieges. Und das hat mir einfach gefallen, weil das natürlich dann auch eine, wie Sie zu Recht sagen, groteske Vorwegnahme von vielem, was dann 1989 und dann natürlich auch 1991, 1992 passiert ist. 89 und dann natürlich auch 91, 92 passiert ist. Man möchte natürlich beim Lesen oft gern dann doch wieder genau wissen, was ist da jetzt Fiktion, was ist Recherche, wo ich mich am meisten gefragt habe, das ist in dem Indien-Kapitel mit dem Idol, das Mohammed und Vishnu in Beziehung bringt. Hat es das wirklich gegeben oder ist das reine Erfindung? Das ist eine Erfindung von mir. Also die Grundidee des Indien-Kapitels ist, dass Bombay in einer religiösen Gewalt sondergleichen ja fast verbrannt ist, entflammt und dann verbrannt ist. Und das hat sich entzündet daran, dass man ein altes Idol entdeckt hat, das Mohammed, also den Propheten des Islams, zeigt als letzte Wiedergeburt, als zehnte Wiedergeburt, als Avatar von Vishnu. Das heißt eine wirklich organische Verschmelzung dieser beiden Religionen. Und das ist natürlich, wenn man sich vorstellt, was passieren würde, wenn es dieses Idol wirklich gäbe, das ist ein gefundenes Fressen für alle religiösen Fanatiker, weil sie entweder das Idol dann instrumentalisieren würden, so wie im Moment die hinduistische nationalistische Regierung, die sogenannte Hindutva, das machen würde, um zu sagen, seht ihr, Mohammed und der Islam kann sich einfügen in unsere Götterwelt, dann seid ihr Teil von uns. kann und daran entzündet sich einfach eine extrem dynamische und ich glaube auch spannende Krimi und Thrillerhandlung, die es mir wiederum ermöglicht, dass also jedes der Kapitel hat ein großes Thema, also das erste Kapitel sind natürlich Freiheit, Gesellschaft, Individuum und Kollektiv, das Indien Kapitel ist natürlich die Frage dieses extrem prekäre Verhältnis zwischen organisierter Religion, zwischen instrumentalisierter Religion und individueller Spiritualität. Und insofern sind das Themen, die mich ein Leben lang beschäftigt haben. Und wenn ich mir vorstelle, wie würde eine utopische Welt, also eine bessere Welt aussehen, dann müssten wir auch dieses Problem lösen. Das Problem nämlich, dass tatsächlich je institutionalisierter die Spiritualität ist, desto mehr sie in ihrem Selbstverständnis von einer antagonistischen Abgrenzung zu anderen organisierten Religionen lebt. Und wie könnte man das überwinden? organisierten Religion lebt und wie könnte man das überwinden? Warum sind es eigentlich gerade diese Turning Points? Wonach haben Sie die ausgewählt? Mir ist dann eingefallen, es gäbe ja andere, die auch naheliegen oder vielleicht sogar jetzt logischer wären, dass man nachfragt. Die Entdeckung Amerikas zum Beispiel, die die Welt verändert hat. Oder natürlich der Nationalsozialismus. Was wäre gewesen, wenn Hitler nicht an die Macht gekommen wäre? Wo hätte man da in die Speichen greifen müssen? Oder auch 89 und die Folgen. Das sind ja auch so Turning Points, die infrage gekommen wären. Warum sind es gerade die? Ich glaube, egal was ich gewählt hätte, hätte man zu Recht sagen können, es hätten auch andere. Ich glaube, das letzte Kapitel, das russische Kapitel, ist ziemlich klar. Also das Scheitern der russischen Revolutionen, es waren ja mehrere, prägt uns bis zum heutigen Tag. Also Stichwort Putin oder Kommunistische Partei Chinas und so weiter. Das wirft einen unglaublich langen Schatten auf das gesamte 20. und auch leider auf das 21. Das heißt, die Frage, wie hätte dieser Moment des Aufbruchs, es gab in diesen eineinhalb Jahren der russischen Revolution unglaublich viele Momente einer tatsächlichen Explosion an autonomer individueller Befreiung und neuen Formen des Gemeinschaftlichen auf allen Ebenen, also nicht nur in den Fabriken, nicht nur im politischen Raum, sondern auch in der Kunst, wie der Roman ja dann beschreibt, das erscheint mir tatsächlich eine zentrale Frage. Also das war wirklich meine feste Überzeugung. Wenn ich selber das Angebot hätte, Sie würden jetzt sagen, ich sei auserwählt von dem österreichischen Zeitreiseministerium, dann würde ich tatsächlich 1917, 18 in Russland, das war klar. Die beraten deswegen, weil ich etwas nehmen wollte, was überraschend ist, wo man nicht gleich drauf kommt. Und wir stellen uns ja jetzt in den letzten Jahren mit neuen Perspektiven der Frage Kolonialismus und Schuld und Altlasten und sozusagen die Dominanz europäischer Ökonomie, aber auch Denkens in der ganzen Welt. Wieso ist es passiert? Was für Folgen hat es? in der ganzen Welt, wieso ist es passiert, was für Folgen hat es? Und dann ist die Frage natürlich sehr spannend, wie hätte sich der globale Süden anders entwickelt, ohne diese imperiale Durchherrschung? Und dann gibt es natürlich bei den Piraten eine andere extrem spannende Frage. Ich habe es ja vorhin kurz erwähnt, dadurch, dass wir relativ wenig wissen, außer die Abziehbilder und Klischees, die in Hollywoodfilmen vor allem und in manchen Romanen gezeigt werden, die übrigens interessanterweise alle historisch unglaublich falsch sind. Also nur ein Beispiel, in all diesen Paradenfilmen, ich habe mir alle, die ich so finden konnte, angeguckt, in all diesen Paradenfilmen gibt es Kapitäne. Und zwar die ganze Zeit. Der Kapitän ist von der ersten Minute bis zur letzten Minute des Films Kapitän. Das hat es bei den Piraten nie gegeben. Die Piraten haben vor einem Beutezug einen Kapitän gewählt. Was natürlich sehr sinnvoll ist, weil man wählt jemanden, der für eine bestimmte Aufgabe fähig ist. Das würde man, glaube ich, in jeder Hinsicht machen. Also wenn wir jetzt irgendwie sagen würden, wir müssen jetzt draußen Schnee schaufeln, weil während der Lesung ist irgendwie der Winter eingebrochen, dann würden wir uns auch überlegen, wer übernimmt welche Aufgabe. Aber nach dem Beuterzug waren sie alle wieder gleich. Das heißt, all diese Leute, die diese Filme gemacht haben, konnten nicht ertragen, dass es dort den Entwurf einer egalitären Gesellschaft gab. Und das finde ich schon sehr, sehr interessant, weil ich vermute, dass viele von denen das gar nicht reflektiert haben. Sie haben einfach das, was sie internalisiert haben, es braucht Hierarchie, haben sie projiziert auf die Geschichte. Und das merkt man immer wieder, dass leider ein Großteil der Menschen nicht kritisch hinterfragt, was sie für Prägungen haben dieser Art. Zum Beispiel, es braucht Hierarchie. Wir wissen inzwischen von unglaublich vielen Beispielen, dass das einfach nicht stimmt. Es gibt ja sehr viele, inzwischen auch Unternehmen. Es gibt nur ein Beispiel von Tausenden. Es gibt in Vorarlberg ein ganz tolles Projekt, nennt sich Tage der Utopie, alle zwei Jahre, Es gibt in Vorarlberg ein ganz tolles Projekt, nennt sich Tage der Utopie, alle zwei Jahre, wo wirklich sehr spannende Leute zusammenkommen und erzählen von auch praktischer, konkreter Utopie. Und da habe ich den ganzen Tag zusammengesessen mit einem weltführenden Unternehmen in Vorarlberg. Die haben völlig egalitäre Strukturen, sind extrem erfolgreich und auch die Führungspositionen werden alle paar Jahre durchgewechselt. Also jeder kommt mal dran. Also im Schweizer Bundesrat. Ja, und das funktioniert. Und insofern gibt es ja andere Entwürfe, aber diese anderen Entwürfe kommen dann gar nicht, die werden nicht einmal gesehen, bevor man darüber debattieren könnte. Und bei Bombay war das eigentlich deswegen naheliegend, weil es nirgendwo eine solche Vielfalt an religiösen Variationen gegeben hat. Und insofern die Vorstellung, dass das jetzt ideologisch verengt wird, eine für mich besonders erschreckende Vorstellung ist, dass diese Region, wo religiöse Vielfalt über Jahrtausende gelebt wurde, im Großen und Ganzen, natürlich gab es Ausnahmen, aber im Großen und Ganzen, wo es auch eine Konfluente und Fluide, ein Konfluentes Fluides miteinander gab, das wird sozusagen jetzt ideologisch zumindest angegriffen, vielleicht sogar kaputt gemacht. Insofern war das für mich einfach ein großes Anliegen. Was Sie gesagt haben, der Mensch projiziert das hinein, was er kennt, deswegen kann er sich die Gesellschaft ohne Hierarchie nicht vorstellen. Ich habe mich beim Lesen sehr gefragt, warum ist das ausgespart, wie die Menschen anders geworden sind? Also die Gegenwart, die geschildert wird, ist auf der einen Seite, verfremdet sie unser jetziges Leben. Mein Lieblingswort ist Kapitalozen. Also nach den Erdaltern ist das Erdalter lang, lang vorbei, wo Kapital eine Bedeutung hatte. Aber, dass das funktioniert, muss ja der Mensch eine andere Psychostruktur inzwischen haben. Vor allem die kommunistische Revolution ist ja am alten Menschen gescheitert. Ja, das ist die Behauptung, aber ich glaube, das stimmt nicht. Wieso? gescheitert. Wieso? Ja, das ist die Behauptung, aber ich glaube, das stimmt nicht. Wieso? Naja, weil ich glaube, und es gibt da relativ viele Belege, dass wir ja diesen anderen Menschen in uns haben. Es ist nicht so, dass wir sozusagen einen falschen Menschen haben und der muss dann in irgendeiner Weise sich verbessern, sondern es gibt ja unzählige Beispiele von Aufopferung, von Solidarität, von Idealismus und so weiter und so fort. Ich habe zum Beispiel vor Jahren ein spannendes Buch gelesen von jemandem, der sich die Mühe gemacht hat, in historischen Momenten des Genozids Beispiele zu recherchieren von Leuten, die einfach Nein gesagt haben und sich dagegen gestellt haben. Und die gab es immer wieder. Interessanterweise erzählen wir seltener von solchen Menschen. Und die gab es immer wieder. Interessanterweise erzählen wir seltener von solchen Menschen. Das liegt natürlich teilweise auch an der Art und Weise, wie Erzählung funktioniert. Deswegen gibt es ja so wenig utopische Romane und so viele dystopische. Das Negative erleichtert das Erzählen. Das Positive bereitet Kopfschmerzen. Das ist relativ schwer, weil das Erzählen ganz stark mit Konflikten, mit Zuspitzungen, mit Gewalt, mit Drama usw. zu tun hat. Wieso? Jedes Mal, wenn wir den Fernseher anmachen, ist ein Krimi. Aus diesem ganz banalen und einfachen Grund. Aber dadurch wird natürlich die andere Seite des Menschen nicht sichtbar. Das Scheitern, das war ja meines Erachtens überhaupt kein kommunistisches Modell, sondern das Scheitern der bolschewistischen Gesellschaft aufgrund des Terrors ist ein Scheitern, weil man festgehalten hat an allen möglichen Formen der Organisation, die es bis dahin gab. Man hat Hierarchie, Zentralismus, Patriarchat. Es gab übrigens einige, unter den vielen Sachen, die ich recherchiert habe, einige sehr interessante, sehr radikale, im Sinne von auch neue Gesellschaftsentwürfe, denkende Frauen in den Jahren bis zur Revolution, auch die wurden ganz schnell marginalisiert. Die Räte wurden marginalisiert, die Künstler wurden relativ schnell innerhalb weniger Jahre wieder eingefangen und zu Befehlsempfängern gemacht. Das heißt Gewalt, Terror und so weiter und so fort. Die Instrumente der alten Welt wurden benutzt, um angeblich eine neue Welt zu machen. Dass das nicht funktionieren kann, wird, glaube ich, jedem einleuchten. Und insofern ist das eigentlich ein Scheitern einer Binsen, aufgrund einer Binsenwahrheit, dass man mit Instrumenten, die zum Misslingen geführt haben, nicht ein Gelingen hervorbringen kann. Aber der Mensch ist, und das ist auch meine Lebenserfahrung gewesen, ich habe immer wieder, auch als ich mich beschäftigt habe für den Roman Macht und Widerstand mit Widerstandskämpfern in Bulgarien in der kommunistischen Zeit, der Mensch ist auch teilweise zu Sachen in der kommunistischen Zeit. Der Mensch ist auch teilweise zu Sachen in der Lage, wo ich da sitze und denke, wow. Und zwar ohne Selbstsucht. Also es gibt ja von Richard Dawkins, kennen Sie wahrscheinlich dieses sehr einflussreiche Buch, das egoistische Gen, also das selfish gene auf Englisch, wo er ja versucht, die Evolutionsbiologie daran festzumachen, dass alles einen egoistischen Grund hat. Und ich glaube das einfach nicht. Ich glaube, dass es tatsächlich eines der großen Fähigkeiten des Menschen ist, dass er in der Lage ist, über sich hinauszuwachsen. Und damit meine ich nicht etwas Größeres zu werden, etwas Stärkeres, sondern dass er sich in einen größeren Zusammenhang hineinfühlen und hineindenken kann und diesen größeren Zusammenhang dann lebt. Also einen größeren Zusammenhang durch Liebe, durch Solidarität, durch Anteilnahme, durch Empathie und so weiter. Und die letzte Frage ist, die wir viel zu selten diskutieren, ist eigentlich die philosophische Betrachtung des Menschen überhaupt relevant? Also es wird ja ganz oft diskutiert, dass man sagt, was du vorschlägst ist naiv, weil der Mensch ist ja von außen böse. Meine Behauptung wäre, es spielt eigentlich gar keine Rolle, ob er gut oder böse ist. Lass uns doch ein gesellschaftliches Modell denken, bei dem, egal wie der Mensch ist, möglichst wenig Schaden davon kommt. Der große Denkfehler der konservativen politischen Theorie seit Hobbes und wie sie alle heißen, ist ja zu sagen, der Mensch ist böse, ergo braucht er Kontrolle, ergo muss die Macht konzentriert und zentralisiert werden. Das ist ein Denkfehler, wo ich wirklich staune, das würde jemand in der Grundschule erkennen. Wenn der Mensch böse ist, dann ist doch das allerletzte, was ich tun will, ist einem einzelnen Menschen ganz viel Macht in die Hand gegeben. Also eigentlich ist aus einer pessimistischen Anthropologie heraus die Dezentralisierung von Macht, Herrschaft und Vermögen das allererste Anliegen. Man müsste sagen, keiner darf zu viel an eines dieser Einflussmöglichkeiten besitzen, weil er es potenziell missbrauchen könnte. Ich glaube ja nicht, dass der Mensch böse ist oder nur böse ist, aber nur gut ist er auch nicht. Nein, natürlich nicht. Natürlich haben wir Konkurrenzdenken. Aber bei den Leuten in dieser Utopie ist das offenbar nicht mehr vorhanden. Naja, das Konkurrenzdenken ist eine Frage schon der Prägung, der kulturellen Prägung. Also nur mal ein Beispiel, das sind Themen, über die wir wirklich stundenlang reden können, aber ich habe mal ein Buch gemacht über Sport, das hieß Meine Olympiade und das beginnt mit einem Satz von den Sioux-Indianern, das ist heute ungefähr North and South Dakota, die haben einen Satz, wer dreimal hintereinander gewinnt, ist ein schlechter Mensch. So, jetzt gehen Sie mal hinein in irgendeinen Fußballverein und sagen, das ist ein Trainer. Der würde sagen, Sie sind völlig verrückt. Aber es ist eine andere Art zu denken. Es ist eine andere Art zu denken, was... Oder ein Satz, den ich gefunden habe bei den alten Griechen, es kommt dann ein, die Olympischen Spiele, wie Sie ja wissen, waren zuerst bei den alten Griechen über Jahrhunderte hinweg eine kulturelle Kontinuität. Er kommt dann zu irgendeinem Philosophen und sagt, ich habe gewonnen, ich habe die Goldmedaille errungen. Und der Philosoph guckt ihn an, schüttelt reuchend den Kopf und sagt, was für eine Ehre ist es, einen Schwächeren zu besiegen. Das heißt, es gibt zu allen Prägungen, zu allen Formen, zu denen wir auch Bildung, Ausbildung, Erziehung usw. uns entschieden haben, gibt es Gegenentwürfe. Und diese Gegenentwürfe, und das ist ja das für mich Deprimierende, wir behaupten in einer freien Gesellschaft zu sein, aber diese Gegenentwürfe sind meistens marginalisiert, sind in irgendwelchen Nischen oder so, werden oft belächelt, anstatt dass wir offen all diese Sachen diskutieren und sagen, vielleicht gibt es andere Formen des Miteinanders, die sinnvoller sind. Als lebender Antisportler bin ich sowieso froh, wenn Spiele, die nur auf Sieg und Besieg, wenn man das umpolen kann. Aber so auf ganz gleich und damit zufrieden wird man die Menschen ja doch nicht hinbringen können. Und ich glaube, ein entscheidender Einwand steht im Roman selber. Da heißt es einmal, wo existiert das größte Ungleichgewicht, die größte Ungleichheit in der Liebe. Das heißt, es gibt, was immer man sonst verändert oder an neuen Regelungen, es gibt die Ungleichheit, dass es Menschen gibt, die mehr Liebe erfahren, die mehr Sympathie und so weiter. Was tut man dann damit? Nein, man tut gar nichts damit und auch nichts dagegen. Das ist ja der Hauptgrund für eine bessere Gesellschaft, dass das Leben an sich sowieso so schmerzhaft ist. Also es gibt so viele, egal in welcher Gesellschaftsform, so viele Enttäuschungen. Es endet etwas unglücklich mit dem Tod und dazwischen gibt es so viele, allein schon in der Liebe, so viele gebrochene Herzen und so viele. Allein schon in der Liebe, so viele gebrochene Herzen und so viele, das gibt es sowieso. Das heißt, weil es das gibt, weil das Teil unserer Existenz ist, also der geniale Satz von Djoran, von der Untröstlichkeit geboren worden zu sein. Also sozusagen das Leben an sich trägt ein schweres Gepäck. Also lasst uns doch wenigstens da, wo wir Einfluss haben, nämlich bei der Organisation unseres Miteinanders, lasst uns doch wenigstens da die Gründe für Leid, Unterdrückung, Schmerz minimalisieren, weil das andere kommt oft genug. Also wir müssen sozusagen keine Sorgen machen, dass Leid verschwindet. Jetzt habe ich zu lang nicht auf die Uhr geschaut. Das macht nichts, weil die Zeit, die wir hier jetzt pflegen, ist eine göttliche. Wir wachsen über uns hinaus. Aber ich glaube, es wäre dringend an der Zeit, wieder ein Stück zu lesen. Ja, ob es dringend ist, weiß ich nicht, aber es ändert sich jetzt alles. Letztes Kapitel Russland. Blasmusik unterm Balkon, rote Käppis, weiße Jacken, zugeknüpft bis oben hin, Schatten schief im Gleichschritt, sechs in einer Reihe, in sechs Reihen, vorn der Staffelstab. Stoßwärts die Standarte. Schatten wie Turnister am Rücken. Stech auf Schritt. Eins, zwei. Eins, zwei, drei, vier. Die Musik hält inne. Bleibt stehen. Pausiert. Sia lehnt sich über die Brüstung. Sechs weiße Reihen. Rot gepunktet. Und tollende Kinder. Ein Junge erwachsen mit Mütze und Stolz. Mädchen mit Hummeln im Hintern spielen Himmel und Hülle. Aus der Stille setzt sich Ordnung in Bewegung. Schau, was für eine Schau. Sechs Tuben auf der, auf rechteckig behauenen Stein. Sechs mal sechs Stiefel fügen sich zum Bild. Eins und zwei und tragen es hinweg. Eins, zwei, drei, vier. Die Bläser, lauter als der Jubel, hinter den Stößen Kadetten, bei Kräften, Gymnastik uniformiert. Eine Nachbarin tritt hinaus auf den Balkon nebenan. Ein Netz über struppigem Haar, graue Strähnen und Weckgläser aufgestapelt um sie herum. Sia drückt sich an die Hauswand, um nicht gesehen zu werden. Das ist nicht immer möglich. Ein Paukenschlag, ein Magenschlag, die Farben verwischt, Paare ohne Stiefel, fünf Instrumente und eine Stolpertuba. Die Hosen zerrissen, die Käppis im Graben, drei, vier, eins, zwei dazwischen. Der Staffelstab, ein Gummiknüppel, alles zerläuft, zweiter Paukenschlag, alles hechelt, alles hetzt. Weiterpaukenschlag, alles hechelt, alles hetzt, die Arme, Blut verschmiert, bricht ein junger Mann unterm Balkon zusammen. Ein Angriff gegen, gegen wen? Sias Blick erhascht das wehende Ende einer Fahne auf einem anderen Gebäude. Die Fahne noch nicht rot. Wir müssen es wieder versuchen. Die Pronauten müssen es immer wieder versuchen, weil es ist relativ schwierig, den richtigen historischen Moment abzupassen bei der russischen Revolution. Immer wieder müssen sie es versuchen. Wir müssen es wieder versuchen. Sia wird umarmt von Fremden. Als würde zum allerersten Mal gefeiert. Unsere Helden, schreit jemand. Und wieder eine Umarmung. Gesichter, die zu lange gleichmütig getragen wurden. Abgenutzte, ausgemergelte Gesichter, die vor Leben strotzen, weil es endlich taucht. Die Menschen tanzen zum Rhythmus ihrer Euphorien. Endlich hat Hoffnung keinen bitteren Nachgeschmack. Was sie aufschnappt, was sie sich zusammenreimt, was sie spürt, bevor sie es versteht, ist die Spontanität. Auf jedem Pflasterstein, vor jedem Gebäude und an jeder Ecke unterhalten sich die Menschen. Banner verkünden den Generalstreik. Es treibt sie hinaus auf einen großen Platz, wie ein See voller Badender, die sich gegenseitig erzählen, was sie heute nicht arbeiten werden. Es treibt sie hinaus auf einen großen Platz, wie ein See voller Badender, die sich gegenseitig erzählen, was sie heute nicht arbeiten werden. Sie teilen einander mit, was sie nicht produzieren werden, was unerledigt bleiben wird. Und weil es so viele sind und weil sie sich gegenseitig mit ihren Beschreibungen anstacheln, köchelt es gewaltig auf diesem Platz. Ein Druckermeister hat sich ein Buchstaben auf die Hand gemalt. Ein schönes, großes A. Bezahlt werden wir nach Buchstaben. Klingt doch gerecht. Mitnichten. Wieso nicht? Na, was ist mit den Zeichen? Welche Zeichen? Die Zeichen zwischen den Halbsätzen und am Ende der Sätze. Ah, du meinst die Fragezeichen. Ja, die meine ich aber auch, die Bindestriche und die Beistriche. Und die Ausrufezeichen, nicht wahr? Wie jetzt, wie hier. Ja genau, du hast es kapiert. Also ein Ausrufezeichen macht genauso viel Arbeit wie ein K oder ein M. Aber nichts kriegen wir dafür. Die Metallarbeiter erwartbar vielzählig nicken verständnisvoll, was sie heute nicht gießen und nicht schweißen, kann sich im Groben jeder und jeder vorstellen. Sie schweigen lieber, überlassen das Reden den Chauffeuren in ihren polsterartigen Uniformen, die allen anderen versichern beim Generalstreik. Arbeiteten sie mehr als im Dienst. Denn da stehen sie überwiegend herum, meist in der kalten Luft und warten, rauchen eine Zigarette nach der anderen. Wir verrauchen die Zeitgenossen, mehr ist nicht zu sagen. Den Transport machen wir auch, sagen die Eisenbahner, weniger elitär als ihr, weniger etepetete. Ach was, Durchfall kriegt doch jeder. Ja, ja, schon, aber nicht jeder kriegt was Verdorbenes zum Essen. Sie grinsen einander zu und wundern sich, dass auch die Bankangestellten unter ihnen sind, die sich die Handschuhe reiben, weil sie keine Scheine zählen, keine Wechsel ausstellen. Als wären diese Tütenkleber des Kapitals nicht exotisch genug auf dem Platz der vielen Zeichen, mischen sich einige Paradiesvögel des kaiserlichen Balletts unter die Verweigerer. Wer ist denn kaiserlich? Hier hat es sich ausgekaisert. Könnt ihr nicht mal hüpfen und springen fürs Volk? Können wir, können wir. Sogar ein Spagat machen für das Proletariat können wir und eine Hebefigur, worauf die Verkäuferinnen und Schaffner, die Näherinnen und Hafenarbeiter eifrig applaudieren. Das ist sehr behende, sagt ein Mann offenhörig, ein geübter Redner. Das ist höchst elegant. Aber wisst ihr, was wir, unsere kleine Gruppe hier, gerade nicht tun? Wir sitzen nicht im Gericht. Wir verhandeln keinen Fall für unsere Mandanten. Und die da, die haben wir einfach so mitgenommen, das sind die Geschworenen. Und die hören sich keine Beweise an und die bilden sich kein Urteil, weil wir uns alle miteinander weigern, einen anderen Fall zu verhandeln als den Fall der Monarchie. Gebrüll aller Orten, als die Aussage des Anwalts weitergetragen wird von Mund zu Ohr. als die Aussage des Anwalts weitergetragen wird von Mund zu Ohr. Der Fall der Monarchie. Die Arbeit ruht. Das Blut in den Adern der Stadt fließt andersherum. Wir müssen es wieder versuchen. Wir müssen es wieder versuchen. Trotz Schlamm und Trommelfeuer Es ist geschehen Die Soldaten haben ihre Waffen niedergelegt Und ihre Feldflaschen herausgezogen Und dem Feind gereicht Das Niemandsland ist zweisprachig Die Soldaten vergleichen Schnaps mit Wodka Sie fragen, welchen Beruf hast du, Kamerad? Die Soldaten vergleichen Schnaps mit Wodka. Sie fragen, welchen Beruf hast du, Kamerad, im richtigen Leben? Bäcker finden zueinander und Bauern tauschen sich aus über Kartoffel und Topinambur. Einige Schlucke weiter sprechen sie von ihren Liebsten, von einem Verlangen, das im Schützengraben zum Trugbild verkümmert, von verkratzter Sehnsucht mit dem Finger am Abzug. Ich hatte dich im Visier, Kumpel, und meine Liebste im Sinn. Wäre es umgekehrt gewesen, wir hätten diese Pulle längst miteinander geteilt.« »Wir sind nicht gierig, außer aufs Leben.« »Recht hast du, Kumpel, und Hand aufs Herz. Ich bin gierig wie kein Zweiter, ein ganzes Bataillon an Liebschaften. Ich nur eine.« »Na, wollen nicht zählen?« »Zählen nicht, aber was für ein Verlust, wenn du mich erschossen hättest. Stimmt, so wenig, wie du bislang erlebt hast, habe ich mir aufgehoben. Für später. Später, das ist ein Schwanz, der inwendig wächst. Wenn du mich fragst, lieber zünftig als künftig. Na, hoch die Pulle. Bin schon froh, dass ich dich nicht erschossen hab. Die Soldaten staunen über sich selbst. Es war so einfach. Sie mussten sich nur anmaßen, selbst Frieden zu schließen. Merkwürdige Zeiten, sagt einer, der sich dazu gesellt. Habt ihr gehört? Nee, was denn? Die Schwäne hacken den Kreen die Augen aus. Wo? Na, überall. Darauf trinken wir, Kameraden. Ob im Westen oder im Osten. Was soll aus uns nur werden, wenn die Schwäne den Kreen die Augen aushacken. Mit langsamem Blick auf das Ende, das bald naht. Eine Frage habe ich mir manchmal gestellt, warum ist es eigentlich so wichtig, diese Turning Points zu finden und im Nachhinein zu versuchen, Geschichte zu verändern? Wäre nicht das Wichtigste eigentlich, dass sich, so wie alle Individuen und alle Gesellschaften, alles erzählen könnten, alles so sehen, wie es wirklich war, nichts ausschließen, verschweigen, verdrängen müssen. Wenn zum Beispiel Russland wirklich alles zulassen würde an seiner eigenen Geschichte, könnte es den jetzigen Krieg wahrscheinlich gar nicht führen. Wäre nicht das eigentlich das Wichtigste? Naja, es gibt ja in jedem Roman eine Meta-Ebene, die reine Literatur ist. Das heißt, auf einer Ebene verhandelt jeder Roman bestimmte Themen, bestimmte Reflexionen, Auseinandersetzungen, Mythen, Legenden und so weiter. Aber auf einer anderen Ebene ist es immer in dem eigenen Kosmos des rein Literarischen. Das heißt, es gibt bestimmte literarische Gesetze, die sind wie die Schwerkraft, oder wie die Relativitätstheorie von Einstein. Die muss man auch mit beachten. Und deswegen muss bei einem Roman ja auch oft so ein Moment des Bündelns, ein Kristallisationspunkt, es muss etwas zusammengeführt werden, was in Nutsche größere Zusammenhänge, größere Dynamiken in irgendeiner Weise erzählbar macht. Und das muss plausibel sein. Es ist aber sozusagen immer auch nur ein Gedankenexperiment. Und das ist das Spannende, finde ich, an Romanen. Deswegen glaube ich, dass der Roman tatsächlich unser bestes kulturelles Instrument ist für Erkenntnis und Verständnis und Selbstentwicklung, weil diese beiden Ebenen beide funktionieren müssen. Das heißt, der Roman muss etwas Essentielles über uns erzählen, also etwas, was wir nachvollziehen können. Und das ist ja hochinteressant, wenn man sich in die reine Fantasy- oder Science-Fiction-Literatur hinein begibt, die sind ja manchmal von einer unglaublichen menschlichen, ja fast Kleinteiligkeit, weil sie in dieser verrückten Fantasiewelt dann etwas erzählen, was wir sozusagen beim Nachbarn auch vorfinden können. Also das braucht es immer, sonst verlieren wir das Interesse, glaube ich, auch. Und auf einer anderen Ebene funktioniert das eigentlich als ein geschlossenes System. Und das ist das Spannende an Romanen. Sie sind einerseits, wenn sie gelingen, offene Systeme, weil nur im Zusammenspiel oder im Zusammentanz mit der Leserin und dem Leser überhaupt dieser Raum des Fiktionalen vollständig wird. Davor ist es ja, würde ich sagen, ein schemenhafter Raum, der dann durch die Lektüre konkret wird. Aber andererseits ist es auch ein völlig geschlossenes System, weil es eigentlich alles Mögliche beinhaltet und um das zu beinhalten, alles andere ausschließt. Und deswegen gibt es sozusagen solche Notwendigkeiten, würde ich sagen. Es gibt dann einfach erzählerische Notwendigkeiten, die dem geschichtsphilosophischen Impetus widersprechen in manchen Momenten. Backe, man hat ja einmal in den Karnes, in den Notizbüchern geschrieben, man denkt nur in Bildern, wenn du Philosoph sein willst, schreib Romane. Ist das für Sie auch eine ähnliche? Ja, hat er ja gemacht. Das ist interessant, das wusste ich nicht. Ja, das ist sehr interessant, weil Bacamu eine Zeit lang sehr wichtig für mich war und ich mir immer gedacht habe, das, was er sozusagen, weil die philosophischen Werke waren ja zuerst, die werden eigentlich vollständig in den Romanen. Und das würde ich unterschreiben. Sehr guter Gedanke, ja. Das Interessante ist ja, dass man, also ich weiß nicht, ob es Ihnen so geht, aber mir geht es so, dass man ja ab einem gewissen Alter bestimmte Romane, die einem sehr wichtig sind, mehrfach gelesen hat. Und bei diesen wiederholten Lektüren merkt man das, finde ich, besonders stark, dass man das Gefühl hat, es ist zwar ein Gebäude, das man kennt, das man nochmal betritt, aber irgendwie ist das neu bevölkert und neu eingerichtet. Also dieses Staunen darüber, wie der Roman in der Fantasie des Lesers sich immer wieder neu aufbaut und dadurch, glaube ich, eine philosophische Tiefe erreicht, die ein rein quasi rational reflektierender Text eigentlich niemals haben könnte. Und zum anderen kann man aber wieder in die Zeit zurückkommen, wo man den Roman zum ersten Mal gelesen hat. Ja, und über sich selber auch staunen, oder? Genau. Also man ist ja dann manchmal, man sitzt da und denkt sich, boah, ich muss ja ganz schön deppert mit 16 gewesen sein, dass ich den Roman gut fand. Oder aber man erinnert sich daran, dass man irgendwas nicht gut fand, aber weil alle möglichen Freunde sagen, das ist was ganz Großartiges, musst du nochmal lesen. Und dann liest man es nochmal und dann kommt man, glaube ich, auf eine entscheidende Erkenntnis, die uns allen sehr gut tun würde, urteile nicht so vorschnell. Also dieses, das ist ja, finde ich, ich finde ja, älter werden eigentlich in großen und ganzen Gründen ein Segen und eine der vielen Segen, na, ich finde, es gibt viele, auch da müssten wir, wir leben ja in Zeiten, in denen ja irgendwie jetzt die Jugend ein Fetisch ist und irgendwie das Älterwerden irgendwie durch alle möglichen Ratgeber verzögert werden soll und am besten den Tod auch noch abschaffen. Ich finde das sehr gut, dass man allmählich kapiert, dass dieses Urteilen eigentlich eine Falle ist, die man sich selber stellt. Es ist nicht nur so, dass es aggressiv ist gegenüber anderen, sondern eigentlich tut man sich selber dadurch auch vieles vermiesen und vermasseln. Also insofern auch bei der Literatur, deswegen finde ich auch Literaturkritik überwiegend überflüssig, weil Urteilen ist völlig uninteressant. Das Urteil am Ende ist das Uninteressanteste an der Lektüre. Interessant ist sozusagen die Reise. Was habe ich da alles für Anregungen, für Ideen? Und das würde ich sagen, ist bei jedem ernstzunehmenden Buch, ist das eine Reise, die einen in irgendeiner Weise belohnt. Mein Onkel hat mir mal gesagt, als ich jung war, es gibt kein Buch, von dem du nicht was lernen könntest. Und das ist, glaube ich, tatsächlich so. Dann würde ich bitten, Sie wollten ja das letzte kleine Schlussstück noch lesen. Ja, also haben Sie noch Energie? Wie sind die Ohren? Sind die Ohren? Ja, okay, gut. Aber Sie wollten ja die Abmoderation machen, damit wir dann aufstehen und nach Hause gehen können. Ich wollte, dass der Text der Schlussakkord ist und darum sage ich Ihnen, verabschiede ich mich jetzt schon auch im Namen des Hauses, freue mich, dass Sie da waren. Es gibt hinten den Büchertisch und Ilja Trojanow wird natürlich, wenn Sie es wünschen, die Bücher auch signieren. ihrem Buddy, also ihrer Partnerin Samseel, ist es tatsächlich gelungen, die Geschichte zu ändern. Aber die Geschichte hat dann vier unterschiedliche Variationen. Das schaut dann so aus, dass vier verschiedene Entwicklungen untereinander sind. Sie können sich dann überlegen, wie Sie es lesen. Ich lese die mir liebste, nämlich die vierte. Die Zukunft ist ein Zug, den Sia und Samsil besteigen, um die große Stadt zu verlassen. An den Waggons Bilder von Pferden, sonnigen Kruppen, wehenden Sicheln. Losungen aus dem Maschinenraum. Legen wir den höchsten Gang ein oder bleiben wir fest auf den Schienen? In den Abteilen Menschen dicht gedrängt. Der Zug, lang wie eine Allee, nimmt Fahrt auf. Willkommen im Express der Geschichte, sagt der Schaffner und zieht sich sogleich die Uniform aus, um in langer Unterhose zu erzählen von Abenteuern entlang der Gleise. Die Enge ermöglicht jedes Gespräch, etwa zwischen ausgemergelten Arbeitern, deren Augen vor Wut glühen, die Ränder darunter tief vor Enttäuschung. Ein Huhn? Du bringst einen Huhn aus der Stadt ins Dorf? Na, verkehrte Welt. Du, das ist ein proletarisches Huhn. Es hat jede Menge Bewusstsein und wenig Fleisch auf dem Rippen. Es hat jede Menge Bewusstsein und wenig Fleisch auf dem Rippen. Das Lachen ruckelt durch den Waggon. Ein Kleinkind schläft an die Schulter seiner Mutter gelehnt. Einige Arbeiter spielen Karten mit militärischen Orden als Einsatz. Als einer von ihnen alle Orden vor sich aufgehäuft hat, räumt er den Gewinn mit großer Geste zusammen in seine Mütze hinein und zum Fenster hinaus. Der Zug schießt frischen Gelegenheiten entgegen. Beim nächsten Halt steigen alle aus, manche aus Neugierde. Die roten Fahnen an der Lokomotive haben sich eingeschwärzt. Die Passagiere diskutieren eifrig mit den Bauern der Umgebung, tauschen Nahrung gegen Nachrichten. Der Zug tuckert langsam weiter. Eine jede muss Kohle schaufeln. Zu beiden Seiten kürzlich geerntete Felder. Am nächsten Bahnhof dauert der Aufenthalt noch länger. Die Passagiere palavern mit den Einheimischen, überreichen sich gegenseitig Geschenke, entdecken entlang des Zuges neue Transparente. Macht züchtet Parasiten. Oder Anarchie ist die Mutter aller Ordnung. Jemand stellt den reisenden Kindern Farbe und Pinsel zur Verfügung, damit sie ihren Zug selbst anmalen können. Der Zug fährt so langsam an, es dauert, bis die Bewegung mit bloßem Staunen wahrgenommen werden kann. Als sie an der Reihe ist, Kohlen zu shippen, fällt ihr mit einem Blinzeln auf, dass es keinen Zugführer gibt. Auf beiden Seiten ausufernde Weideweltnis. Am späteren Nachmittag bleibt der Zug mitten in einem Wald stehen. Wieso fahren wir nicht weiter, fragen manche. Habt ihr nicht gehört, ruft ein Förster von seinem Hochsitz herab. Wir aus der Stadt mitten im Wald haben auf euch gewartet. Unser Leitsatz lautet, so wenig Transport wie möglich. Ihr müsst verweilen, hier ist es schön, zumal zur Pilzzeit. Ihr müsst Ausschau halten, die Totentrompeten fallen diese Saison dunkel aus, aber sie schmecken besser als je zuvor. Eine Saison später fahren sie aus dem Wald hinaus, den Klang der Totentrompeten auf der Zunge. Einem aufmerksamen Knirps fällt auf, dass die Schienen fehlen. Die Aufregung legt sich schnell. Die Gebäude entlang der Strecke unterscheiden sich deutlich voneinander, keine zwei gleich und zudem ihren Bewohnerinnen ähnlich, die in großer Zahl davorstehen und verdutzt winken. Seit die Lokomotive weg sei, sagt jemand, versickere die Monotonie. Vor einem Kloster haben sich einige Männer und Frauen aufgereiht, Hand in Hand, jedes Paar unterschiedlich gewandert. Sie schnirpten ein quirlendes Gebet. Nach ausführlicher Begrüßung erzählen sie von einem Weltweisen tief im Inneren des Klosters, der seit dem Tod des Zaren vor einem riesigen Buch sitze und schweigend einen alten Kalender durchblättere, von hinten nach vorn, mit solchem Bedacht, dass er pro Tag nur eine Seite umschlage und sich somit kalendarisch mit dem Tempo der Vergänglichkeit in das Vergangene bewege. Wie könne er sich eine solche Langsamkeit auferlegen? Weiter, weiter. Aus großer Entfernung ein Wegweiser mit Schildern, die in tausend und eine Richtung weisen. Hier kreuzen sich alle Sprachen. Wer sein Ohr auf die Erde legt, lauscht der Sprache der eigenen Sehnsucht. Erde legt, lauscht der Sprache der eigenen Sehnsucht. Es dauert Jahre, bis die fahrende Gemeinschaft sich von diesem Ort lösen kann. Der Zug scheint zu schweben, so wie er ohne Räder rollt. Tätowierte Männer steigen zu, samt Werkzeug. Sie seien aufgebrochen, um ein Langhaus zu schnitzen, außen Abbildungen von Wesen, die ihnen noch beschrieben werden müssten. Ich wünsche mir ein Eselshorn, zirpt ein Mädchen. Was es sei, eine Kreuzung von Einhorn mit Esel, worauf der Tätowierte voller Entzücken seinen Talisman dem Mädchen überreicht. Aber ich kann dir gar kein Geschenk machen, stammelt das Mädchen beschämt. Mach nichts, erwidert der Mann, das macht überhaupt nichts. Du bereitest mir größte Freude, weil, wenn ich etwas weggebe, gehört es für immer mir. Der Zug bewegt sich, doch sie spüren es nicht viele morgen nach dem aufbruch hat er keine waggons mehr sie sitzen inmitten der landschaft auf unsichtbaren sänften ohne fenster ohne türen ohne gepäck und ohne proletarische Hühner. Die Sitze verschwunden wie zuvor, die Räder und die Schienen wie die Lokomotive, der Zugführer und der Schaffner. Und am nächsten Morgen fehlen auch die Passagiere. Übrig geblieben, Schulter an Schulter, Sia und Samsel in einer Hängeängematte endlich daheim. Dankeschön. Vielen Dank. Applaus