Liebe Kinder, ich lese euch heute das Buch Eine Tütüt-Torte für Elise vor von Anja Freudiger, erschienen im Balance Verlag. Das ist Marie. Marie wird später einmal Obermeister-Tortenbäckerin. Vielleicht arbeitet sie dann sogar für einen König. Sie kann nämlich die schönsten Kuchen und Törtchen machen, mit Honig, Äpfeln und Zuckerperlen. So etwas ist ein Talent. Mama gibt genüssliche Seufzer von sich, wenn sie Marie beim Schüssel ausschlecken hilft. Marie hat eine tolle große Schwester, die heißt Elise. Elise kann keine Kuchen backen, aber Geschichten erfinden. Märchen mit Geistern und Drachen, Feen und Prinzessinnen. Geistern und Drachen, Feen und Prinzessinnen. Wenn Marie Elise Törtchen abgibt, kuschelt sich Elise zu Marie in deren Zauberhöhle unter dem Schreibtisch und erzählt. Schwesterngeschenk gegen Schwesterngeschenk, sagt sie und stupst Marie grinsend mit dem Zeigefinger auf die Nase. Maries Schwester will Balletttänzerin werden und Elise schafft immer was sie sich vorgenommen hat, denkt Marie und streicht über den zarten Stoff von Elises Tütü. Aber trotzdem ist Elise oft unzufrieden mit sich. Marie kann das überhaupt nicht verstehen. Eines Tages sagt Elise, wenn man tanzen will, muss man leicht sein wie eine Feder. Ich muss wirklich auf mein Gewicht achten und darf nicht mehr so viel essen. Keine Kekse, kein Honigkuchen. Marie kratzt sich ärgerlich an der Nase. Wer soll sich denn jetzt über ihre Schwesterngeschenke freuen? Marie kann beobachten, wie Elises Portionen beim Mittagessen immer kleiner werden. Schrumpf, Schrumpf, klitzeklein. Abends möchte Elise nicht mit am Tisch sitzen. Ich muss noch Hausaufgaben machen. Ich esse in meinem Zimmer. Papa pustet auf seine Spaghetti. Als Familie sollte man gemeinsam am Tisch sitzen und essen. Glaubst du vielleicht, meine Hausaufgaben machen sich von ganz allein? zischt Elise. Sie antwortet oft gereizt in letzter Zeit. Klapperschlangengezisch. Marie schnipst Elise wütend ein Fleischbällchen hinterher. Immer macht Elise die Stimmung kaputt. Ach, lass sie die Hausaufgaben doch jetzt machen. Die Schule geht bei ihr eben vor, sagt Mama. Vielleicht sollte Mama auch mal mit Fleischbällchen schnipsen. Mama und Marie bringen Elise immer zur Ballettstunde. Wie Elise springen kann und wie hübsch die Tütüster-Mädchen flattern, Feen und Elfen. Marie will das auch. Flieg, flieg, flatter. Obwohl ihre Schwester immer dicke Pullis trägt, merkt Marie ganz deutlich, dass Elises Körper sehr dünn geworden ist. Wenn sie so vor dem Spiegel steht, kann Marie schon zwischen den Beinen durchsehen. Spinnenbeine. Marie fragt sich, ob Elise denn nicht längst leicht wie eine Feder geworden ist. Aber Elise sagt, was bin ich für ein dicker Trampel, Klapperschlangengezisch. Elise soll nicht so wütend sein, sie soll wieder lachen und Quatsch machen und Marie beim Kuchenbacken die Schokolade klauen. Marie zieht die Nase kraus und streckt den Spinnenbeinen die Zunge raus. Und plötzlich hat Marie eine Idee. Sie bäckt eine Torte für Elise. Ein Schokofüllung und rosa Zuckerguss. Rosa wie Elises Tütü. Das wird sie doch sicher wieder fröhlich machen. Eine Tütü-Torte für Elise. Aber als Elise ihren Kopf zur Küchentür hereinsteckt, verzieht sie die Nase. Was panst du denn schon wieder für eine Fettbombe zusammen? Oh, diese Wut, die jetzt in Marie hochkrabbelt und ihren Kopf ganz feuerrot macht. Sie weiß gar nicht, was sie sagen soll, aber sie weiß, was sie am liebsten machen würde. Trotz der dicken Pullis ist Elise oft kalt. Sie will sich nur noch selten zu Marie in die Zauberhöhle kuscheln. Mir fallen keine Geschichten mehr ein, sagt sie mürrisch. Marie zupft an den Tischdeckenfransen, die vor ihrem Gesicht baumeln. Dann muss sie sich jetzt eben selbst etwas erzählen. Aber so sehr sie sich auch anstrengt, ihre Drachen sind einfach nicht so wild und die Prinzessinnen nicht so lieblich wie die von Elise. Manchmal hat Marie ein bisschen Angst, wenn Elise zum Beispiel beim Essen ein Stück Pizza in ihre Serviette packt und es später im Mülleimer verschwinden lässt. Vielleicht ist das nicht gut für Elise, so wenig zu essen. Ihre Wangen sind eingefallen und sie sieht blass aus. Ob Marie Mama etwas sagen soll? Aber vielleicht gibt es dann Streit. In Maries Magen wächst ein drückender Klumpen. Von Tag zu Tag wird er größer. Das fühlt sich so traurig an, dass sie überhaupt nicht mehr lachen kann, wenn sie mit Elise im Raum ist. Und Kuchen mag sie auch nicht mehr backen. Marie kickt gegen die Tür zur Vorratskammer. Sollen die Zuckerperlen und Schokoladentropfs da drin doch vergammeln? Aber eines Tages kommt der Streit hoch. Mama hat beim Aufräumen viele Teller mit altem Essen unter Elises Bett gefunden. Das Essen, das sie mitgenommen hat, als sie Hausaufgaben machen wollte. Mama schreit und schimpft mit Elise. Aber Elise starrt nur stumm auf ihre Zehen. Da zieht Mama sie ins Bad und stellt sie auf die Waage. Als Mama die Zahl auf der Anzeige sieht, fängt sie an zu weinen. Das mag Marie nicht hören. Sie rennt in ihr Zimmer. Schnell, schnell, Türe zu, schnell, schnell unter die Decke und Finger in die Ohren. Aber trotz der Finger hört sie ihr Herz in den Ohren klopfen. Hätte Marie Mama doch Bescheid sagen sollen? Mama setzt sich zu ihr aufs Bett und zupft nervös am Bettlaken herum. Dann sieht sie Marie fest in die Augen und sagt mit ernster Mama-Stimme, Marie, nichts war deine Schuld. Papa und ich müssen auf Elise aufpassen. Mama geht mit Elise zum Arzt. Elise ist krank. Krank am Körper, weil er so wenig Nahrung bekommen hat und auch krank in der Seele. Die Krankheit heißt Magersucht. Daher die Spinnenbeine und das Schlangengezisch. Die Krankheit in der Seele ist Schuld, dass Elise nicht mehr essen will. Keine Kekse, kein überhaupt nichts. Aber man kann Elise helfen. Es gibt nämlich Krankenhäuser, die den Körper und die Seele heilen. Dorthin wollen die Eltern Elise bringen. Doch das macht Elise wütend, so voll Wut wie die schrecklichen Hexen aus ihren Märchen. Giftgrüne Augen wütend. Sie schreit Mama und Papa an, ganz laut. Maries Finger tun weh, weil sie die so fest in die Ohren drücken muss und ihr Herz tut auch weh. Das ist nicht ihre Elise. Ihre Elise ist albern und kuschelig und freut sich über ihre Schwestern-Geschichte. Marie sitzt in ihrer Zauberhöhle und drückt die Nase in ihren Stoffkater. Nicht traurig sein, Katerchen, murmelt sie. Irgendwann wird es still. murmelt sie. Irgendwann wird es still. Marie nimmt den Finger aus ihrem rechten Ohr und horcht. Nur ein Automotor und eine Hand auf ihrer Schulter. Mama bringt Elise in die Klinik. Papa lächelt Marie unsicher an. Magst du einen Kaukau-Marienkäferchen? Papa und Mama besuchen Elise jede Woche. Sie reden viel miteinander und auch mit den Ärzten, die Elise behandeln. Und sie reden mit Marie. Marie weiß jetzt, dass Elise Zeit brauchen wird, um gesund zu werden, aber auch, dass sie schon etwas zugenommen hat und dass ihr die Gespräche mit den Ärzten, die ihre Seele heilen sollen, helfen. Der Kampf gegen Spinnenbein und Schlangengezisch hat begonnen, sagt Mama und lächelt müde. Dann zieht sie Marie auf ihren Schoß und wuschelt ihr durch die Haare. Der Klumpen in Maries Bauch wird kleiner, jeden Tag ein Stückchen, bis ihr Magen endlich ganz vernehmlich knurrt. Marie steckt ihre Nase in die Vorratskammer und schnuppert Honig, Äpfel und Schokoladentropfs. Aber Marie vermisst ihre große Schwester oft ganz schrecklich. Ob Elise überhaupt noch an sie denkt? Da liegt eines Tages ein Brief von Elise auf Maries Nachttisch. Aufgeregt reißt Marie den Umschlag auf, schlüpft in ihre Zauberhöhle und beginnt zu lesen. Liebes Schwesterchen, du musst mich unbedingt besuchen kommen, ich habe nämlich eine neue Geschichte für dich. Sie handelt von einer Feder, die einem starken Wind begegnet. Die Feder freut sich über den Wind, weil sie so schön mit ihm tanzen kann. Aber dann wird der Wind immer stürmischer und reißt die Feder hoch und ganz weit fort, ohne dass sie sich dagegen wehren kann. Wie die Geschichte weitergeht, weiß ich noch nicht so genau, aber ich glaube, sie wird ein gutes Ende haben. Ich freue mich schon sehr auf dich, du, deine Elise. PS, vergiss nicht mein Törtchen, du weißt doch, Schwesterngeschenk gegen Schwesterngeschenk.