Guten Abend, schön, dass Sie alle da sind. Ich werde das jetzt mit dieser Stoppuhr machen. Also, ich lese etwas ganz Neues, das habe ich vorgestern erst aus der Druckerei bekommen. Ein Essay, heißt Gustav Landauer oder die gestohlene Zeit. Und es geht hauptsächlich um die Periode der Münchner Räterepublik, um die Anarchisten rund um Gustav Landauer. Und da werde ich jetzt einfach den Anfang Ihnen zu Gehör bringen. Eins, das Nadelöhr der Anarchisten. Gleich am Anfang ein schiefes Bild, aber ich bin es nicht losgeworden. Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als dass ein Reicher in das Reich Gottes gelangt. Doch eher gelangt ein Reicher in das Reich Gottes als drei Anarchisten ins Wittelsbacher Palais. Das Nadelöhr steht hier auch für die kurze Zeitspanne, in der das Wunder wirkmächtig werden durfte, nämlich gerade einmal sechs Tage, vom 7. bis zum 13. April 1919. Ein kleines Loch in der Zeit also, durch das die drei staatstragenden Anarchisten hindurch gelangten, diverse unorthodoxe Volksleute in ihrem Windschatten. 2. Hier kommt Landauer, soll er fortwährend gerufen haben, der Volksbeauftragte für Volksaufklärung, wenn er durch den Palast stolzierte. wenn er durch den Palast stolzierte. Der Pazifist, Hölderlin-Liebhaber, Walt-Whitman-Verehrer, Gustav Landauer, fast zwei Meter groß, hager, schmales Gesicht mit weistratigem Bart, die Haare wie Fahnengewächse vom Kopf abstehend, wie gut kann man ihn sich so hochgemutschreitend vorstellen, wenn man einmal Bilder von ihm gesehen, Zeilen von ihm gelesen hat. Doch die Quelle ist nicht ganz zuverlässig. Derjenige, der Landauer so beschreibt, ist Korrespondent des Chicago Daily Journal und ebenso berühmt für seinen Erfindungsreichtum wie für seine Zugaben zur Wahrheit. Als Drehbuchverfasser für fast alle Kultregisseure des großen amerikanischen Kinos wird er später zur Hollywood-Legende. Sein Name? Ben Hecht. Seine Zeitung schickte er 1919 nach München, um über die ungeheuren Vorfälle zu berichten. Hecht behauptet, er habe Landauer täglich interviewt. Jedes bayerische Kind im Alter von zehn Jahren ist dabei, Walt Whitman auswendig zu lernen, soll der Volksbeauftragte gesagt haben, das ist der Eckpfeiler meines neuen Erziehungsprogramms. Zweifellos gab es auch andere. Eine der ersten Amtshandlungen Landauers war die Abschaffung der Prügelstrafe an Schulen. war die Abschaffung der Prügelstrafe an Schulen. Drittens. Mr. Hecht ist nicht die einzige ungewöhnliche Verbindung Landauers zur glamourösen Welt der Filmstudios. Mark Nichols, Regisseur von Klassikern wie Wer hat Angst vor Virginia Woolf, Die Reifeprüfung oder Hautnah, wurde 1931 als Sohn von Brigitte Landauer geboren. Sie war die Tochter von Gustav Landauer und seiner zweiten Gattin Hedwig Lachmann. Eine Liebe, die wie ein Film begann. Als hätte der Großvater einem Interview des Enkels gelauscht, das dieser 109 Jahre später gab. Man muss die Liebe seines Lebens finden. Diese Maxime hatte Mike Nichols in einem Interview mit der Berliner Zeitung verkündet. Am 28. Februar 1899, 20 Jahre vor dem Ende, begegnet Gustav Landauer bei einer Veranstaltung mit dem Lyriker Richard Demel einer Frau, deren Anblick ihn so gefangen nimmt, dass er es nicht wagt, sie anzusprechen. Hedwig Lachmann, eine zierliche Gestalt mit blaugleißenden Augen und filigranen, fast durchsichtigen Händen, ist offenbar Demels Begleiterin. Umringt von Bewunderern, palliert sie über jedes Thema mit der gleichen Werf- und Scharfsichtigkeit, sei es Politik oder Religion, Poesie oder der neuste Stern am Theaterhimmel. Noch in der gleichen Nacht beginnt Landauer, ihr Briefe zu schreiben. Der erste enthält eine ungeduldige Botschaft. Wer hat es, Fräulein, wer so vereinsamt ist, wer sich so nach der Seele der Frau sehnt wie ich, wer eine so innige Zuneigung gefasst hat wie ich zu Ihnen beim ersten Blick in Ihre Augen, der will nicht warten. Ich bitte Sie herzlich, lassen Sie es nicht schlimm kommen. Das Problem ist nur, er weiß nicht, wohin er seine Zeilen schicken soll. In einer Begleitnotiz an Hedwig klagt er, Im Adressbuch waren sie nicht zu finden, meine hiesigen Bekannten haben den Kirschner nicht. In den verschiedenen Berliner Cafés, die ich um dessen Willen aufsuchte, liegt es auch nicht auf. Und zur königlichen Bibliothek war es schon zu spät. Morgen gehe ich dahin und finde ich sie im Kirschner nicht, so muss ich es mit dem Einwohnermeldeamt probieren. Erst Tage später erfährt er ihre Anschrift, ausgerechnet von Richard Demel selbst. Und so erreichen sie Sätze wie dieser. Ich habe wieder, endlich wieder einen Menschen, für den ich gewachsen sein will. Tags darauf gesteht er ihr, mit einem Wort wahrgesprochen, ich möchte sie, mit ihnen reden und plaudern, ihr Auge sehen, mich an ihrer Frische erfreuen, ihr Freund sein können und ihnen etwas sein können. Die welt- und sprachgewandte Frau als Übersetzerin von Chandor Pettifü und Edgar Allen Poe hochgelobt, lässt sich vom Ton der Briefe verzaubern, bleibt aber vorsichtig.