Ich möchte Sie in die Zukunft entführen, nicht weit, nur ein paar Wochen, in die Adventzeit und habe dafür mein neues Buch mitgebracht, Kein Weihnachten ohne Würstel, heiteres, romantisches, schräges und bissiges zur schönsten Zeit im Jahr. Ich bedanke mich auch beim Stifterhaus für die passende Dekoration. Ich bedanke mich auch beim Stifterhaus für die passende Dekoration. Ja, und ich lese ein paar Auszüge aus seiner Geschichte aus dem Buch und die heißt Distelbauers letzte Weihnachten. Es war nicht sicher, ob der alte Franz Huber, der sich selbst Distelbauer nannte, nach dem Distelhof, den er bis zu seiner Pensionierung bewirtschaftet hatte, dieses Weihnachtsfest noch erleben würde. Dass der Distelbauer im Sterben lag, wusste er und das wussten auch alle anderen im Altersheim, wie es im Volksmund immer noch hieß, obwohl es zuerst im Pflege- und Betreuungszentrum und später in Seniorenresidenz umbenannt worden war. Heutzutage braucht eben alles von Zeit zu Zeit ein neues Mascherl. Dem Distelbauer war das egal. Er hatte das Altersheim bei seinem Einzug mit dem im eigenen schwarzen Humor Pension Friedhofsblick getauft und sah keinen Grund daran, etwas zu ändern. Denn wohin er von hier aus übersiedeln würde, war sonnenklar. Und der Umzug rückte immer näher, denn sein Lungenkrebs war weit fortgeschritten und ihm blieben nur noch Wochen, vielleicht Tage. Weihnachten würde ich aber schon gern noch einmal erleben, sagte der Franz öfter, auch wenn er sonst weit davon entfernt war, mit seinem Schicksal zu hadern. Als der Arzt ihm die schlechte Botschaft, dass er nun austherapiert sei, überbrachte, hatte er nur mit den Achseln gezuckt. Ich freue mich darauf, meine Maria wiederzusehen und irgendeinen Tod muss man sterben. Ich bin 91 Jahre alt und schon lange bereit zu gehen, sagte der Distelbauer. Ins Altersheim war der Distelbauer vor zehn Jahren eingezogen und in all der Zeit hatte keiner der Bewohner und auch niemand vom Personal ihn je schlecht gelaunt oder frustriert erlebt. Er war wie ein alter Baum, den die Stürme des Lebens zwar beutelten, aber nicht brechen konnten. Nicht einmal als das Coronavirus das Altersheim in eine Festung verwandelte, keine Besucher herein und die Bewohner nicht einmal ihre Zimmer verlassen durften, hatte er seinen Humor verloren. Kurz aber überlegt, das Haus in Pension Alcatraz umzutaufen, weil die Senioren jetzt ja quasi alle in Einzelhaft waren. Für ihn selbst war der Verschlusszustand nicht so schlimm, weil ohnehin niemand da war, der ihn hätte besuchen können. Viele andere Bewohner fühlten sich hingegen fürchterlich einsam, weil sie ihre Lieben nicht sehen konnten und sie hätten für regelmäßige Treffen gerne ein paar Monate Lebenszeit eingetauscht. Denn allein in ihrem Zimmer zu sitzen und auf den Tod zu warten, das war für sie ohnehin kein Leben. Zimmer zu sitzen und auf den Tod zu warten, das war für sie ohnehin kein Leben. Angst vor dem Virus hatte der Disselbauer keine. Wenn es ihn schneller als der Krebs zu seiner Maria zurückbrachte, sollte ihm das recht sein. Die Diplomschwester Annabelle nannte den Disselbauern insgeheim den guten Geist der Pension Friedhofsblick. Denn selbst in den letzten Monaten, in denen er oft Hustenanfälle bekam, Blut spuckte und an Atemnot litt, hatte er immer ein offenes Ohr für andere Bewohner des Altersheim. Da war zum Beispiel die Frau Brisbischil. Sie hatte sich geistig längst von der Gegenwart verabschiedet und erzählte immer die gleichen alten Geschichten, die ihre Mitbewohner nicht mehr hören konnten, weshalb sie in ihre Zimmer flüchteten und die Türen zumachten, wenn sie sie über den Gang schlurfen hörten. Der Distelbauer hingegen, der das Bett inzwischen ohne Hilfe nicht mehr verlassen konnte, rief sie zu sich herein. Na, Frau Prisbischil, was gibt's denn Neues bei Ihnen? fragte er dann, wohl wissend, dass die alte Frau die Ironie in seinen Worten nicht wahrnehmen konnte. Und sie setzte sich zu ihm und erzählte ihm wohl zum hundertsten Mal, wie das damals gewesen war, als ihr Vater vom Grieb heimkam und zum Alkoholiker wurde, weil er die Gräuel nicht vergessen konnte und wie er seine Frau und seine Tochter geschlagen hatte. Dabei schien sie sich immer mehr in das kleine, ängstliche Mädchen zu verwandeln, das sie damals wohl gewesen war. Der Distelbauer hörte ihr so andächtig zu, als vernehme er diese Geschichte zum ersten Mal und sie schien solchen Trost aus seiner Aufmerksamkeit und Anteilnahme zu ziehen, dass ihr Geist, wenn sie mit dem Erzählen fertig war, manchmal sogar für kurze Zeit in die Gegenwart zurückkehrte. Dann nahm sie die Hand des Distelbauern und sagte lächelnd, schade, dass wir uns nicht in unserer Jugend getroffen haben, sie hätte ich vom Fleck weg geheiratet. Der Franz nahm diese Offenbarung als das große Kompliment, dass es war. Annabelle hatte ihm vom Leben der Frau Prisbischil erzählt und daher wusste er, dass sie nach den schlechten Erfahrungen mit ihrem Vater nie einen Mann so nahe an sich hatte heranlassen können, um eine ernsthafte Beziehung oder gar eine Ehe mit ihm zu führen. Daher lächelte er geschmeichelt, wenn sie ihm quasi einen Heiratsantrag machte und sagte sanft, das ist eine sehr große Ehre für mich, Frau Prisbischil, aber ich fürchte, meiner Frau, der Maria, wäre das nicht recht gewesen. Und dann kicherten sie beide wie zwei alberne Teenager. Auch für das Personal hatte der Dieselbauer immer ein gutes Wort übrig,gar für die ruppige Bertha, wie die Bewohner insgeheim die Pflegerin nannten, die im ganzen Haus verschrien und gefürchtet zugleich war. Sie schaute immer grießgrämig rein und schien ihre Arbeit mit den alten Menschen eigentlich als ungeheuerliche Zumutung zu empfinden. Entsprechend war auch ihr Umgang mit ihnen. Der Distelbauer vermutete, dass sie aus irgendeinem Grund die ganze Welt zuwider war. Aber sie beantwortete keine seiner Fragen. Wenn sie ihn wusch, dann fühlte sich der Franz hinterher, als hätte ihn seine Großmutter, Gott hab sie selig, über die Waschrumpel gezogen, die man zu ihrer Zeit noch verwendete, um feuchte Wäsche daran sauber zu reiben. Aber vielleicht lag es auch einfach an ihrer Statur, dass die ruppige Bertha nicht behutsamer sein konnte. Immerhin war sie knapp 1,90 Meter groß und hatte Hände wie Schaufeln. Der Disselberger fragte sich manchmal, ob die Pflegerin nicht früher ein Ringer gewesen war, der sich in eine Frau hatte umwandeln lassen. Das hätte vieles erklärt. Wenn die anderen Bewohner über die Ruppi Gebärter schimpften, nahm er sie aber jedes Mal in Schutz. Bestimmt hatte sie eine harte Kindheit. Ich bin sicher, ganz tief drinnen in ihrem Herzen, wirklich ganz tief drinnen, ist sie eine Seele von einem Menschen, sagt er dann. Wenn dem so war, dann ließ die ruppige Bertha das aber niemals erkennen. Und als sie eine Kollegin einmal erzählte, was der Distelbauer vermutete, war ihr einziger Kommentar dazu, so ein alter Spinner. Den zarten Hauch eines Lächelns, der dabei für den Bruchteil einer Sekunde um ihre Mundwinkel spielte, bemerkte die andere Pflegerin nicht. Dankeschön.