Was ist die Eimannfrau? kommt mit der Familie, die die Villa betreut. Eine kleine Sequenz daraus. In der Zwischenzeit ist Pavel aufgestanden und hat aus Retos Zimmer einen Notenständer geholt. Kleines Konzert erklärt er und legt ein Notenheft auf die Ablage. regiert Reto aus der Tür mit seiner golden funkelnden Posaune, die uns während der letzten Monate schon so viel Freude gemacht hat. Das Instrument ist mindestens so groß wie sein Spieler und liegt wie eine Panzerabwehrrakete auf seiner Schulter. Ein Wunder, dass er unter diesem Gewicht nicht zusammenbricht. Am Anfang spiele ich ein Kinderlied, verkündet Reto, setzt das Mundstück an die Lippen, macht die Augen zu und bläst hinein in den Raum der Freiheit und des Glücks. Sofort kommt mir Hannah Arendt in den Sinn und ihre wunderbare Frage, wo sind wir, wenn wir in der Welt sind? Ein Kind, diese Erkundung, ist die Frage, wo sind wir, wenn wir Musik hören? Dank Greto weiß ich das nun zum ersten Mal in meinem bis dato ahnungslosen Leben. Schon beim zweiten seiner Töne tut sich mir eine Landschaft auf, das Nirwana. Aber dieses Nirwana ist nicht wie von den Weisen aller Zeiten verkündet ein leerer, besinnlicher, lautloser Ort. Hier ist es ganz im Gegenteil nicht leer, sondern bevölkert mit einer Unzahl von sterbenden Vögeln. Sie möchten fliegen, können sich aber nicht mehr vom Boden erheben. Sie möchten stolz sein auf ihr erhabenes Gefieder, sind aber zerzaust, teilweise sogar, naja, etwas räudig und haben magere Köpfe, von denen seitlich völlig zerknittete Pflaumenfedern abstehen, deren Knittrigkeit noch mehr und eindringlicher von ihrer Hinfälligkeit erzählt als die fehlenden Federn. Retus spielt mit größtmöglicher Inbrunst, Kuckuck, Kuckuck, ruft's aus dem Wald. Aber nicht mit der dafür notwendigen kleinen Terz, diesem fröhlichsten aller Intervalle, mit dessen Hilfe man Kinder zur Musik verführt und zum Schlagen von Purzelnbäumen, sondern mit der großen Mollterz, dem Inbegriff von Trauer und Verfall. Retus Kuckucks Lied transzendiert den Frühling zu einem Herbst des Lebens, in dem die Blätter schon gefallen sind, während zwischen ihnen die sterbenden Vögel vergeblich mit ihren Flügeln schlagen. Ich bin derart ergriffen von der Kühnheit dieser Improvisation und dem visionären Gestus, mit dem Reto das Altbekannte neu auflädt, dass ich, der ich mich sonst wirklich beherrschen kann, verzweifelt und ungehemmt loslachen muss. Ich möchte das nicht. Ich möchte ihn, so wie von seinen Eltern beabsichtigt, loben und nicht lachen. Aber meine Erschütterung braucht ein Ventil. Und jedes Auflachen ist ein Kehrichtsack, in den hinein ich meine echte Fassungslosigkeit entsorge, die unter ihrer Oberfläche auch eine Schicht Entsetzen birgt über die Verstümmelung eines Liedes, dessen Vögel vor Zeiten durch einen strahlenderen Himmel flogen. Ich erlebe hier, versuche ich mich zu ermahnen, die Dekonstruktion meiner überkommenen Hörgewohnheiten. Ich sollte dankbar sein über die unfassbare Kühnheit, mit der Reto seine Terzen wie einsame Riesen über die Herbstleerenfelder meiner Ohrmuscheln schickt. Riesen über die Herbstlernfelder meiner Ohrmuscheln schickt. Kuckuck, Kuckuck, wuchst schauerlich aus dem vermodernden Wald. Hätte Hitler ein öffentliches Begräbnis bekommen, hier wäre die Musik dazu. So verabschiedet man einen Tyrannen auf nie mehr Wiedersehen, weder als Körper noch als Geist noch als Ideologie. Retos Lied macht mich komplett fertig. Mein aus tiefster Not geborenes Lachen irritiert die Hausleute. Warum lachst du? Fragt mich Philippa, Retos Mutter, nach dem Lied, das offensichtlich nur die Eröffnung eines Reigens darstellt. Aus lauter Freude rufe ich, wegen der tollen Fortschritte. Das ist ja unglaublich, was der Reto alles dazugelernt hat, in der Zeit, seit ich da bin. Weil wie ich im Oktober gekommen bin, da hat er nur einzelne Töne gespielt. Von denen ich damals nicht wusste, ob sie aus einem Instrument oder aus einer Maschine zur Unkrautvernichtung kommen. Aber das sage ich natürlich nicht laut dazu. Und jetzt, wo erst Februar ist und ich wieder abreisen muss, fahre ich fort, spiele ich schon so tolle Lieder. Das ist ja ein Riesenfortschritt, ganz toll. Und das in so kurzer Zeit. Ich steigere mich in eine Art Lobrausch und glaube plötzlich selber an das, was ich sage. Nur so funktioniert Überzeugungsarbeit. Aber weil das trotz all meiner Euphorie nicht hundertprozentig reicht, greife ich zur äußersten Maßnahme, zum allerletzten Killer-Argument. Nicht nur, um vielleicht den einen oder anderen der verstorbenen Vögel wieder zum Leben zu erwecken, sondern auch, um der ganzen Welt zu beweisen, wie ernst ich es meine mit meinem Lob. Ich hoffe, beginne ich, also ich hoffe, ich hoffe, du spielst uns jetzt noch was. Philippa scheint dieser Wunsch zu befrieden, auch wenn sie sich bezüglich meines lauten Lachens noch nicht ganz sicher ist. Reto blättert in seinem Notenbuch und findet etwas Schönes. Ich spiele jetzt den Schulschwänzer-Blues«, verkündet er. »Das klingt doch gut«, zögere ich den Anfang seines Anfangs verbal hinaus, was nicht so recht funktionieren will. Reto stößt ins Horn, als müsste er nicht nur die Mauern von Jericho zum Einsturz bringen, sondern auch an der Stelle, wo die Mauerreste liegen, ein Loch ausheben. Retus Blues hat aber im Gegensatz zum ersten Programmpunkt Passagen, die nicht nur mit Tonschritten und Tonsprüngen arbeiten, sondern mit melismatischen Schleifklängen, die ja auf der Posaune besonders gut zu spielen sind. Ich fühle mich, als verlöre ich die Bodenhaftung. Eine Rutschpartie beginnt. Auf nassem, glitschigem Laub drifte ich haltlos von zu Tode betrübt bis zum von Tode besiegt. Ich kann sie schon sehen, die anderen, diese Phalanx aus Skeletten aller jemals verstorbenen Menschen, die am Grund des Dücks Ahnungs- und Ruhe und augenlos in schauigen Kreisen durch ihr ewige Ohnmacht ziehen. Genau dort, Siedl dreht da seine Musik an. Eben dort werden die unbegleiteten Toten begleitet von der zwanglosen Zuversicht eines zehnjährigen Knabens. Mir schaudert vor dieser Allegorie, als wäre ich selbst schon eines dieser Gerippe, aber es gelingt mir auch hier am Leben zu bleiben, in Summe etwas weniger hyänenhaft zu lachen und schlussendlich wieder am lautesten zu applaudieren. Angespornt von dieser meiner Begeisterung entschließt sich Reto spontan zu einer sofortigen Zugabe. Dankeschön.