Ich habe heute eine Textcollage aus zwei Geschichten aus diesem Buch mitgebracht. Stellen wir uns einmal die Stimmung kurz vor einem Gewitter vor und schauen wir, was weiter wird und wem wir begegnen. was weiter wird und wem wir begegnen. Die menschliche Fantasie erfand ihre Götter in Stunden wie diesen. Sie konnte kaum anders, als sich über oder in den Wolken ein Reich vorzustellen, in dem mächtige Wesen hausten, in dem Licht und Dunkelheit, Schatten und Glanz miteinander kämpften, mit Sturmgebraus, Blitze wie Speere schleudernd und mit Donnerstimme grollend. Gewaltig mussten diese Mächte sein und ihre Macht reichte bis auf die Erde und teilte sich ihr mit. Bald würde der Kampf am Himmel auf sie übergreifen, bald würde der Sturm durch die Bäume peitschen, würden Regen und Hagel niederprasseln und Blitze von ohrenbetäubenden Donner begleitet durch die Luft zischen. Doch noch war es still. Jugend hat immer etwas von Genialität. Die Art, die Welt neu zu sehen und ihr neue Fragen zu stellen, auch wenn dieselben Fragen in jeder Generation gestellt worden sind. Für den einzelnen Menschen sind es immer neue Fragen, denn jeder Mensch lebt nur einmal und erlebt alles einmal das erste Mal und denkt und begreift alles einmal das erste Mal. Und jedes neue Sehen und Fragen stellen hat etwas von Genialität. Selbst wenn die Fragen nicht von der Art sind wie jene, die mein Schulkollege Markus damals unserem Physiklehrer gestellt hatte. Dieser hatte die Frage vordergründig ins Lächerliche gezogen, hintergründig aber gewiss Markus' Genie erkannt, dass fähig war, derartige Fragen zu stellen und überhaupt auf sie zu kommen. Mittlerweile hat Markus eine Professur für Astrophysik und ist ein international anerkannter Forscher mit Aussicht auf Nobelpreis. Die Wolken. Es war wahrlich ein Schauspiel, musste Helga denken, irgendwie sogar schön, schaurig schön. Doch sie wollte auf jeden Fall zu Hause sein und ihren Einkauf erledigt haben, bevor das Gewitter, das bestimmt kam, losging. Sie spürte den Schweiß von ihrem Haarensatz über Nacken und Rücken laufen. Trotzdem ging sie noch etwas schneller. Sie hatte ihr Büro früher verlassen, als die noch zu erledigende Arbeit es erlaubt hätte. Diese musste auf morgen warten. Und wer weiß, das konnte man insgeheim immer feststellen, ob es überhaupt noch ein Morgen gab. Der Himmel sah jedenfalls ziemlich nach Weltuntergang aus und den verbrachte man wohl besser in den eigenen vier Wänden als im Büro. Die Angst ist das größte Übel, so hatte mein Bruder Andreas gesagt. Nicht die reale Furcht, diese sei lebensnotwendig, sondern die Angst als Feigheit. Die Angst vor dem Leben, die stärker sein kann als die Angst vor dem Tod. Die Angst davor, seinen eigenen Weg zu gehen. Die Angst vor den anderen, vor der Meinung der Mehrheit. Mein Bruder war oft in Fettnäpfchen getreten, hatte andere vor den Kopf gestoßen, erzürnt oder beleidigt, nicht aus Rücksichtslosigkeit oder Böswilligkeit, sondern aufgrund fester Überzeugung seines Standpunktes. Blamiert hatte er sich nie, vielleicht aus dem Grund, weil er keine Angst davor hatte. Lukas hatte seine Mutter quengeln lassen und seine Joggingschuhe angezogen. Jetzt wolle er noch weg, wodurch gleich ein Gewitter komme. Es ist so schrecklich schwül, Leute, die bei schwülem Wetter laufen gegangen sind, haben schon einen Herzanfall bekommen und das waren keineswegs nur alte Leute. Klar, Leute bekommen immer Herzanfälle aus irgendwelchen Gründen. Leute, die zu viel Stress haben, Leute, die sich langweilen. Wenn man vor lauter Angst, womöglich einen Herzanfall zu bekommen, es unterlässt überhaupt zu leben, kann man sich gleich begraben lassen. Menschen sind nun einmal sterblich und irgendwann trifft es jeden. Es kommt nur darauf an, bis dahin wirklich gelebt zu haben, was nichts anderes heißt, als dass man auch mögliche Irrtümer begeht und sich möglichen Gefahren aussetzt. Wie sagt man einem Menschen, dass er nur mehr wenige Monate zu leben hat? Das ist ein Problem, vor dem Mediziner unter Umständen stehen. Wie sagt man einem Menschen, dass man ihn liebt, wenn Gegenliebe nicht erwartet werden kann? Das ist ein Problem, dem sich jeder und jede Liebende stellen muss. Wie sagt man der Menschheit, dass ihr Ende nahe ist? Die Angst ist die Wurzel allen Übels, aller Missverständnisse, aller Feigheit und Unaufrichtigkeit. Die Angst vor der Wahrheit. Doch die Wahrheit ist in Wahrheit nicht angsteinflößend. Sie ist einfach und schön und gut. Nur die Wirklichkeit ist erbärmlich, weil sie nichts ist als die Kämpfe der Angst untereinander und die Angst vor den Ängsten und die Ängste vor der Angst. Und das größte Unheil über die Menschheit haben stets die Mitläufer gebracht. Der größenwahnsinnigste Diktator hätte nichts ausrichten können ohne Mitläufer. Doch die gab es immer und die wird es immer geben.