Schönen guten Abend, liebe Damen und Herren, grüße euch liebe Freunde. Ich begrüße euch zur Vorlesestunde im DorfTV und wünsche einen interessanten Abend. Ich habe heute die schöne Gelegenheit, meinen Roman Hotel Weitblick vorzustellen, der im Frühjahr 2021 bei Kreml und Scheriau erschienen ist. Ich werde den Anfang lesen zu das erste Kapitel. Ein Mensch ist mehr als sein Beruf, viel mehr. Ich weiß das, aber ich weiß es noch nicht lange. Bis vor einem Jahr habe ich mich ausschließlich anhand meiner Tätigkeit definiert und ich war stolz, im Ranking der 100 erfolgreichsten Konsalter Österreichs unter den Top 50 aufzuscheinen. Hatte mein Karriereziel erreicht, ich wollte ja nichts anderes als Erfolg und Geld. Das waren meine Impulsgeber. Bis mein Leben Tschulpi wurde. Natürlich ist Tschulpi kein Wort im herkömmlichen Sinn, ich habe es erfunden. Es ist zu meinem Wort geworden. Seine Bedeutung hat sich in mir entwickelt, prozesshaft würde ich sagen, nicht linear. Sobald ich beginne, mich einer Sache anzunähern, begleitet Tschulpi mich wie ein Freund. Als hielte das Wort meine Hand, wenn ich weiß, dass ich weitermachen werde in meinem mir näher kommen, aber Angst davor habe, Zusammenhänge zu entdecken, die mir nicht gefallen könnten. Wenn ich nicht wirklich sehen will, was sich mir zeigen könnte, und es mich dennoch drängt hinzusehen, weil da etwas ist, das lange verborgen, sich endlich zeigen kann. Jeder Mensch sollte ein Wort für sich alleine haben, eines, das ihm Halt gibt. Ich habe mich darauf eingelassen, herauszufinden, wer ich bin. Ich habe, ja was habe ich eigentlich? Ich habe Eckdaten. Name Dr. Marius Tankwart, Familienstand Ledig, Geburtstag 9. April 1971, Einkommenssituation hervorragend. Lebenszufriedenheit, verbesserungswürdig. Sehr verbesserungswürdig habe ich gestern noch zu Frau Mondgold gesagt, gezwinkert und gelacht. Sie hat erst geschwiegen, mich dann doch gefragt. Marius sagt, wirst du dein Abschiedsseminar nun so gestalten, wie du es für richtig hältst? Daran besteht kein Zweifel, habe ich geantwortet, obwohl ich Zweifel habe. Sie weiß das und ich weiß, dass sie weiß, dass ich weiß. Wir haben uns angesehen und sie hat mir mit ihrem liebevollen Blick Aufmerksamkeit geschenkt. Dann hat sie mir eine zweite Tasse Tee eingegossen und gesagt, Marius, dein Rucksack steht gepackt in deiner Wohnung. Dein Flug nach Mexico City ist gebucht. Ja, habe ich gesagt, one way. Und sie hat geantwortet, ab Sonntagabend hast du den Lebensabschnitt als Konsultant hinter dir. Komm, nimm dir noch einen Keks. Mein Anfang beginnt mit diesem Abschied. Lange habe ich darüber nachgedacht, das Seminar abzusagen, aber das wollte ich nicht. Ich will mich zeigen, nicht mehr verstecken. Mitarbeiter einer Werbeagentur sind die vier Teilnehmer. Eine Frau ist unter ihnen. Die Eigentümergruppe hat mir den Auftrag erteilt, herauszufinden, wer mir als am besten geeignet erscheint, der nächste Geschäftsführer zu werden. Was würde mich das noch interessieren? In diesem Hotelzimmer riecht es wie in den anderen Landhotels, als würden sie überall dasselbe Putzmittel verwenden. Auch das Badezimmer ist beengend. Und mit der Enge ist wieder dieses Zaudern in mir. Ich atme durch, betrachte mein Spiegelbild, sage. Gesichtsvermerk Hotelweitblick, 9. April. Kleine Stecknadelköpfe sind die Pupillen, sie blicken mir entgegen, der Mund ist geschlossen, die Lippen aneinandergepresst, zwei Falllinien ins Ungesagte. Ist es dieser traurige Blick, der immer wiederkehrt? Auch die Haut scheint sich seinen Bedingungen anzupassen. Es ist, als würde ich als Ganzes weinen. Mein weinendes Ich. Sind es die Hände, der Bauch? Ist es das Geschlecht? Sind es die Beine? Dieser Gedanke gefällt mir nicht. Und bevor ich jetzt irgendwo hinkommen könnte, verschließe ich diesen weinenden Körper und sage Nein. In diesen Gedankensplitter werde ich mich jetzt nicht hineinbegeben. Also doch vermeiden, nun gut. Ich trinke einen Schluck Wasser aus dem Duschhahn. Was ich wann zulassen werde, entscheide ich selbst und zwar ganz allein. Frau Mundgold würde jetzt laut loslachen und sagen, ja, ja, Marius, glaub du nur. Irgendwie gerate ich gerade in einen Schmollwinkel. Am besten wird es sein, mich einzuseifen. Der Geruch nach Aloe Vera und Ingwer. Die Wassertemperatur ist angenehm, das wäre doch gelacht. Ich werde es schaffen, in diesem Seminar über das Wesentliche zu sprechen. Das sage ich jetzt nicht nur dem Wasser, das sage ich auch zu mir selbst. Das Bad ist nicht besonders geheizt, schnell abtrocknen, zurück ins Zimmer, wie müde ich bin. Hängt da neben der Tür nicht das Bild des selben rörenden Hirschs wie in den zwei anderen Landhotels, in denen ich vergangenen Winter war? Polster zurechtklopfen, Decke aufschütteln, ah, die Zeitung, super, heute zeigen sie im Nachtprogramm einen Western. Das Bett ist bequem, nicht zu hart ist die Matratze und nicht zu weich. Hier werde ich gut schlafen können. Es regt sich nichts in mir, das einen aufkeimenden Zweifel verraten könnte. Gut so, das Weinen werde ich hinter mir lassen, stattdessen nach draußen schauen. Ist ein Ahornbaum? Seltsam durchsichtig wirken die Blätter. Kein Mensch ist in dem Garten, nicht einer. Ich könnte derjenige sein, der hinausgeht, sich auf eine Bank sitzt und einfügt in die Landschaft. sein, der hinausgeht, sich auf eine Bank sitzt und einfügt in die Landschaft. Da sei nichts weiter. Eine Amsel fliegt auf den Baum zu. Schon ist sie zwischen den Ästen verschwunden. Ich will jetzt endlich ankommen, so wie die Amsel, die ihm hier ist und in jedem Moment. Es ist nicht mehr wie früher, als ich zur selben Zeit mit meinem Körper an einem und mit meinen Gedanken an einem völlig anderen Ort war, vielleicht sogar in einer anderen Zeit. Ich lebte und arbeitete, hatte keine Ahnung, dass nur ein Teil von mir am Leben teilnahm. Für die Lehre hatte ich keinen Namen. Ich trug sie in mir und in jeder Handlung, die ich ausführte. Ich kannte keine Zufriedenheit. Es waren die immer gleichen Stimmungen, diese lösten die immer gleichen Bilder aus, die sich einfügten in mein immer gleiches Panorama. In mir ist es nicht mehr so, wie es einst war. Ich war, wie hat Frau Mundgold es genannt, wie ein Soldat ganz neben mir. Und das Einzige, das ich verfolgte, war eine Ziellinie, eine Gerade, die ich fixierte, um mir bedingungslos zu gehorchen. Es war an einem Montag vor etwa einem Jahr. Ich bin nach der Arbeit statt nach Hause in ein Kaffeehaus gegangen. Wollte nicht allein in meiner Wohnung sein. Wollte nicht herumsitzen und fernsehen. Ich glaube, an diesem Montag begann ich durchlässiger zu werden. Oder war es etwas anderes? Ich weiß es nicht genau. Jedenfalls ging ich in dieses Café gegenüber vom Büro, bestellte ein Glas Rotwein und tat nichts weiter, als das Kaffeehaus treiben zu beobachten. Ich wollte auch nichts anderes tun, sah den Besuchern zu, wie sie in Zeitungen lasen oder sich unterhielten und dachte, es ist schön hier. In mir regte sich der Wunsch, regelmäßiger Kaffeehausbesucher zu werden. Bis dahin war ich nicht oft in Kaffeehäusern gewesen und das Sitzen und Herumblicken wurde mir bald unangenehm. So ging ich an einen der Zeitungstische und nahm wahllos ein paar Zeitungen und Zeitschriften. Als ich auf dem Weg zurück zu meinem Platz war, sah ich eine alte Frau an meinem Tisch sitzen. Sie lächelte mich an, und ich wollte sagen, das ist mein Platz, doch bevor ich etwas sagen konnte, sagte sie, Guten Abend, setzen Sie sich zu mir, junger Mann. Ich setzte mich, entgegnete nichts, nickte und nahm eine Zeitschrift in die Hand. Es war ein Fotomagazin. Ich blätterte darin, obwohl ich mich nicht für Fotografie interessiere, sah mir die abgebildeten Fotos unterschiedlicher Sessel an und dachte, dass es ein Irrtum gewesen war, hierher zu kommen, eine Fehlentscheidung. Ich wollte bezahlen und gehen. Doch etwas hielt mich davon ab, aufzustehen und nach Hause zu gehen. Ich glaube, es war die Haltung, die die Frau mir gegenüber eingenommen hatte. Sie hatte mir direkt in die Augen gesehen, als sie mit mir sprach, und ich muss wohl damals schon ihre Klarheit erahnt haben, ohne zu wissen. Es war eine Ruhe in ihrer Stimme, die mich anzog. Ich fühlte mich wohl in ihrer Gegenwart, und da ich all meine Aufgaben an diesem Montag bereits erledigt hatte und mir nichts einfiel, das noch zu erledigen gewesen wäre, blieb ich an dem Tisch sitzen und begann eine in der Zeitschrift abgedruckte Geschichte zu lesen. Es war die Reportage über eine Frau, die ein Sessel sein wollte. Die Frau hatte nichts Manisches. Sie war berufstätig, angestellt in einem Büro und ging jeden Abend nach der Arbeit ohne zu zögern nach Hause, um einen Kuchen zu backen. Schon beim Verrühren der Zutaten begann sie sich zu entspannen und während der Teig aufging, blickte sie in den Herd und beobachtete den Backvorgang. In diesen Momenten fühlte sie sich leicht und träumte von unbestimmten Dingen. träumte von unbestimmten Dingen. Einmal träumte sie von einem Sesselkreis. Doch sie stellte sich nicht die Menschen vor, die beieinander saßen, sondern konzentrierte sich ausschließlich auf die Anordnung der Sessel und deren Beschaffenheit. Ein Sessel, dachte sie, hat eine klare Aufgabe. Und es wurde ihr bewusst, dass alles, was sie sein wollte, ein Sessel war. Einer, der zum Sitzenbleiben einlud. Jedoch kein Ohrensessel, denn der wäre viel zu schwer und beinahe unverrückbar. Zu bequem sollte der Sessel auch nicht sein, sonst würde immer jemand darauf sitzen wollen und sie wusste nicht, ob sie ein Sessel sein wollte, der nie allein und für sich war. Plötzlich wurde ihr klar, sie wollte ein Klappsessel sein, der leicht mitzunehmen wäre zu einem Picknick am See oder einer Jause unter dem Nussbaum, der neben dem Bachufer stehen, aber auch ein Reisebegleiter auf einer Zugfahrt sein oder mit jemandem über das Meer fahren könnte. Ein Sessel, der leicht auf der Straße abzustellen wäre, als eine Rastmöglichkeit für Passanten, die darauf sitzen, in die Luft schauen, das Unterwegssein in ihren Angelegenheiten für eine kurze Weile unterbrechen könnten, um sich zu strecken und einmal durchzuatmen. Dieser Sessel wollte sie sein, dieser, wie sie meinte, Sessel voller Idealismus. Ich fand die Idee, ein Sessel sein zu wollen, naiv, mochte sie jedoch auf Anhieb. Und das irritierte mich. Es war ungewöhnlich, dass ich eine Geschichte, die keinen Mehrwert für mich hatte, zu Ende las und noch ungewöhnlicher, dass ich Sympathie für jemanden empfand, der zum Ziel hatte, ein Sessel werden zu wollen, was doch unerreichbar war für einen Menschen. Ich blickte auf und die alte Frau fragte mich, junger Mann, sagen Sie mir, wie waren die letzten Male, als Sie auf einem Sessel saßen? Die Frage irritierte mich. Keine Angst, sagte sie, es geht mit rechten Dingen zu. Ich habe sie während des Lesens beobachtet und diese Zeitschrift kenne ich genau. Auch die Geschichte, die sie gerade gelesen haben, ist mir vertraut. Aha, sagte ich und dachte, worauf will sie nur hinaus? Sie lächelte, bevor sie sagte, würden Sie nicht liebend gern die Frau aus der Geschichte fragen, was du ein Sessel, auf dem ich schon einmal saß? Ich dachte an versteckte Kamera und dass in Kürze ein Moderator zu mir an den Tisch kommen würde, um Edge zu sagen oder ähnliches. Aber nichts dergleichen geschah. Die Frau sah mich weiterhin freundlich an. Wie heißen Sie? Marius Tankwart. Ich habe Sie ja noch nie gesehen, Marius Tankwart. Mein Name ist Theresia Mundgold und ich komme jeden Tag her. Ich liebe das Kaffeehaus. Kommen Sie morgen wieder, Marius Tankwart? Und ich sagte ja, schnell und ohne nachzudenken. Und ein geborener Tankwart steht zu seinem Wort. Das hat mir meine Mutter beigebracht. Als Kind wollte ich Tischler werden, als Jugendlicher Fußballer und nach der Matura wollte ich Schauspieler werden. Natürlich habe ich das nicht ernsthaft in Erwägung gezogen. Es wäre ja undenkbar gewesen. Ein Tankwart hat Lehrer oder Bankdirektor zu werden, habe ich meiner Mutter sagen gehört, seit ich mich an ihre Stimme erinnern kann. Und ich kannte kein Aufbegehren. Die Pubertät ist vorübergezogen, ohne sich bei mir zu melden. Einmal habe ich nicht zeitgerecht aufgebettet, das war alles. Der Schrank in meinem Zimmer war immer aufgeräumt und aufgestanden bin ich täglich um sechs Uhr früh. In der Familie Tankwart war langes Schlafen nicht erwünscht und auch am Wochenende untersagt. Wer sich ausschläft, statt zu arbeiten, aus dem wird ein Taugenichts oder ein Tunichtgut, war die vorherrschende Meinung und so ist es bis heute geblieben. Das Mobiltelefon vibriert. Hallo Mama. Hallo Marius, ich bin's. Schau auf die Uhr. Exakt in dieser Minute bist du geboren worden. Heute, vor 49 Jahren. Alles, alles Gute zu deinem Geburtstag, mein Marius. Es war so ein warmer April-Tag, als du zu uns gekommen bist. Danke für deinen Anruf, Mama. Die Sonne war ungewöhnlich stark damals am 9. April, schon früh morgens, und ich habe großen Heißhunger auf Kirschen gehabt. Ich habe zwei Gläser mit eingelegten Kirschen gegessen und mir wurde es sehr übel. Das weiß ich, Mama. Das sagst du jedes Jahr. Marius, ich hätte mich beinahe übergeben. Ich habe ja gedacht, die Wehen wären Brechdurchfall oder der Beginn einer Darmgrippe. Aber du, ich habe mich gar nicht übergeben müssen. Ich hatte mich eben unter Kontrolle. Auch im Auto ist nichts passiert. Papa hat mich ins Krankenhaus gefahren und du, ja, du warst eine Bilderbuchgeburt. Das habe ich sehr gut gemacht. Mama, ich muss weiterarbeiten. Sie schluchzt auf. Geht es dir gut, Mama? So allein hat man mich gelassen. Damals hat es noch kein Zimmer für jede Gebärende gegeben. Das ist der reinste Luxus heutzutage. Wir waren ein paar Frauen in einem großen Saal und neben mir ist eine gelegen, die hat laut geschrien und sie ist immer lauter geworden, dass es in meinen Ohren geschmerzt hat. Ich habe die Schreie kaum aushalten können. Ich halte nichts von unkontrollierten Frauen. Sie sind beschämend. Ich weiß nicht, Mama. Es waren Stunden, die ich in diesem Bett verbracht habe. Habe ich dir schon von den Schmerzen erzählt, Marius? Und endlich ist eine Schwester zu mir gekommen. Und ich habe gedacht, jetzt wird alles gut werden. Doch sie hat nur das Bett, auf dem ich lag, mit einem Vorhang vom Rest des Raumes abgetrennt. Ich wollte sie fragen, wann denn bitte endlich jemand für mich da wäre. Aber ich konnte nichts mehr sagen. Da war dieser überwältigende Schmerz. Schon damals hast du mir Schmerzen zugefügt. Du, ich muss arbeiten. Danke für deinen Anruf, dass du an mich denkst, freut mich, aber unterbrich mich nicht, Marius. Die Schwester ist, ohne mich zu beachten, sofort wieder zu der schreienden Frau gegangen. Und ab diesem Zeitpunkt weiß ich nichts mehr, nur, dass es laut war und irgendwann still. Ja. Weißt du, das Kind der schreienden Frau hat nicht gelebt, aber du, Marius, du warst plötzlich da und keiner der Anwesenden hat sich für dich, das lebende Kind, interessiert. Alle nur für das Tote. Aber dann, mein Kirschkern, hast du begonnen, aus Leibeskräften zu schreien. Immer an meinem Geburtstag nennst du mich Kirschkern. Du warst so kräftig und so gut gebaut. Du hast geschrien und die Schwester ist zurückgekommen, hat die Nabelschnur durchtrennt, dich mitgenommen und gesagt, gewaschen gehört er und ruhen sie sich jetzt aus. Das muss sehr schlimm für dich gewesen sein. Aber nein, das weißt nicht, es gibt wirklich Schlimmeres. Du Mama, mach dir noch einen schönen Tag heute und danke für deinen Anruf. Sie wird mich nie fragen, wie es mir geht und das ist gut so. Nein, natürlich ist es nicht gut so. Wir sind wie Fremde zueinander. Im Hotelzimmer ist es kühl. Der rörende Hirsch beobachtet mich. Ich hänge das Bild ab. Ein großer, rechteckiger, heller Fleck kommt zum Vorschein. Immer wenn ich dem Wunsch nachgegangen bin, ihr näher zu kommen, musste ich mich von mir selbst entfernen. Es war, als hätte sie mich insgeheim aufgefordert, meine Haut abzulegen und mir eine andere überzuziehen, eine, von der sie hoffte oder war ich derjenige, der hoffte. Sie würde ihr gefallen. Doch gleichgültig, was ich tat, sie hat es nicht wahrgenommen. Und am Ende blieb ich immer zurück, war verloren in meinem Verlorensein. Das Telefon vibriert. Mama steht auf dem Display. Nicht jetzt, nicht schon wieder. Schlafen ist besser, als mit ihr zu sprechen. Ich stehe im Badezimmer vor dem Spiegel, habe vor, mir die Zähne zu putzen. Sorgfältig gebe ich Zahnpasta auf die Zahnbürste, betrachte mein Spiegelbild, putze Zahn für Zahn. Ich habe Angst vor Zahnfleischbluten, spüle aus, wasche das Gesicht, greife nach dem Handtuch und schaue ein zweites Mal in den Spiegel. Jemand, der aussieht wie ich, sieht mich an. Wer ist der Typ? frage ich plötzlich. Und wie, um mich zu vergewiss der Typ? frage ich plötzlich. Und wie um mich zu vergewissern, dass nur ich selbst es sein kann, lehne ich mich mit der Stirn gegen den Spiegel und blicke direkt in diese Augen. Was ich sehe, ist ein Funkeln. Nein, das kann nicht sein, dieses Gefunkeln kann nichts mit mir zu tun haben. Es bedroht mich, ich habe Angst, gehe ein paar Schritte rückwärts, wende meinen Blick ab, schließe für einen kurzen Moment die Augen, öffne sie und schaue an den oberen Rand des Spiegels. Das bin nicht ich. Ein kalter Schauer durchfährt mich. Ich blinzle. Das muss ein Irrtum sein. Ich blicke vom Rand des Spiegels in die Mitte, erkenne mich wieder. Gott sei Dank, das war nur eine Täuschung. Was ist jetzt nur mit meinen Augen los? Sie sind ja wie tot. Aber ich lebe. Sie können nicht tot sein. Ich verstehe nicht, wenn der mich abblinzle. Jetzt sehe ich wieder diesen Fremden mit meinem Gesicht. Sehe dieses Funkeln in diesen Augen. Ist es das Wilde oder ist es das Böse? Nein, nicht doch. Es muss ja in mir sein. Woher kommt es? Es ist stark. Dieses Starke ist unbeirrbar. Es zieht mich an. Es zieht mich hin. Zieh nicht hin, Marius. Das wird dein Ende sein, höre ich mich schreien und wache auf. Ich mit funkelnden Augen, das ist mein wiederkehrender Traum, heute ruft er mich, nachdem ich mit Mutter telefoniert habe, darüber sollte ich wohl nachdenken. Und da ist diese Unruhe, wo ist mein Begleitheft? Der rote Umschlag liegt auf dem Schreibtisch, Tschulpi habe ich das Heft genannt und mit rotem Feldstift beschriftet. Alles, was in mir auftaucht, bekommt seinen Platz darin. Die Gesichtsvermerke, die Listen. Manchmal schreibe ich nur aneinandergereihte Worte oder wie zufällig notierte Sätze. Die erste Niederschrift des Spiegeltraums. Hier ist sie und da ist noch Platz für meine neuen Eindrücke. Weinendes Ich, ist hier dein Raum? Das Telefon vibriert. Mama, sie wird nicht aufhören, mich anzurufen, bis ich die ganze Geschichte gehört habe. Ich dachte, du magst es, wenn ich dir vom Beginn deines Lebens erzähle. Nein, Mama, ich meine ja, entschuldige, ich habe viel zu tun. Und jetzt willst du nicht einmal mehr mit deiner Mutter sprechen. Du hast dich sehr zu deinem Nachteil verändert. Mama, bitte. Von den Schmerzen habe ich dir noch erzählen können, du. Ist das zu viel verlangt, einmal im Jahr? Schließlich ist das deine Geburt gewesen und dich scheint das nicht zu interessieren? Stundenlang hat das gedauert und du hast nicht einmal die paar Minuten für mich. Weißt du, wie wahnsinnig froh ich gewesen bin, mich nach der Anstrengung endlich ausruhen zu können. Eine Woche bin ich im Krankenhaus geblieben und das, ja ich muss sagen, das war die schönste Zeit überhaupt. Ich habe mich geschont. Und einmal, da habe ich dich gebadet und du warst so zerbrechlich. Ich habe ja am Anfang nicht gewusst, wie ich dich berühren soll, ohne dir weh zu tun. Die Schwestern waren mir wertvolle Ratgeber, das sage ich dir. Und gern habe ich dich angeschaut. Jeden Tag bin ich den Gang entlang zum Säuglingszimmer gegangen und habe dich durch das Fenster betrachtet. Nach ein paar Minuten hat die Schwester dich wieder zurück in das Bett gelegt und ich bin in mein Zimmer gegangen. Meistens ist ein Besuch gekommen, so viele Besucher hatte ich und alle haben sie dich angeschaut, deine Tante Anni und dein Papa natürlich, er war sehr stolz auf dich damals. Da war die Welt noch in Ordnung, nicht Mama? Ich meine es nur gut mit dir. Weißt du, es gibt etwas, das ich herausgefunden habe. Das beschäftigt mich seit längerem. Ich wollte mit dir darüber reden. Marius, ich werde dich jetzt nicht weiter stören. Alles Gute noch einmal für dich und einen schönen Tag. Sie hat aufgelegt. Und ich habe ihr wieder nichts vom Hintergrund Johanna Haras erzählt. Der Frau, die ihre Richtlinien zur Kindererziehung geprägt hat. Sie hätte mir sowieso nicht zugehört. Hätte stattdessen einen ihrer Sprüche gesagt. Entweder Erziehung ist Sache des Hausverstands oder nach der Entbindung beginnt die Erziehung. Sie hätte. Wozu quäle ich mich? Ich könnte mich um den Nachhall meines Traumes kümmern oder mir vorstellen, wie ich durch Mexiko reise und irgendwo in einer Hängematte liege, direkt am Strand unter Palmen. Und zwischen den Blättern schaut der Himmel hindurch und ich schlafe und schlafe und trinke je nach Verlangen Kaffee oder spaziere den Strand entlang. In Mexiko will ich einfach da sein und sehen, was geschehen wird. Nicht sonst. Ich kann es kaum mehr erwarten. Doch jetzt, nach diesem Telefonat, wünscht sich das immer Gleiche in mir noch immer, dass Mama, ich werde bald 50 und, ja, sie ist ein Kopfschütteln. Johanna Hara, wer soll das sein, würde sie mich fragen, um schnell hinzuzufügen. Ich habe diesen Namen nie gehört. Ich würde erwidern, Johanna Hara war die Erziehungsbeauftragte des Dritten Reichs und Oma war ein buntdeutscher Mädel. Was glaubst du, wurde ihr dort beigebracht? Ich werde es dir sagen. Sie hat gelernt, wie die zukünftige deutsche Mutter ihre Erziehungsaufgaben zu erfüllen hat und welche Maßnahmen anzuwenden sind, um den Nachwuchs zu einem Nationalsozialisten zu erziehen. Das stimmt nicht, würde Mama sagen. Das wüsste ich und ich habe nie davon gehört. Es ist kein Geheimnis, dass Oma beim Bund deutscher Mädel war. Das meine ich nicht, wäre ihre Antwort. Von so einer Erziehung habe ich nie gehört und Marius, das war damals einfach so. Oma musste bei diesem Bund sein, du alle mussten. Sie hat dort ja nur gehandarbeitet und bei Ernten mitgeholfen. Wo sind die Karteikarten? Im Rucksack da, ein benutztes Taschentuch, der Kugelschreiber, die Schere, Taschentücher, der Klebstoff, Bleistifte, eine Lochmaschine, meine Sonnenbrille, die Wasserflasche, hier sind sie, die Unbeschrifteten, zwischen den Beschrifteten. Da sind die Karten mit den Zeichnungen, ah, hier ist diejenige, die ich suche. Nach der Abnabelung wird das Kind erst einmal beiseite gelegt und für 24 Stunden in einem abgedunkelten Raum, frei von Nahrung und fern der Mutter verwahrt. Johanna Hara Mama, 32 Jahre später, am Tag meiner Geburt, wurde auch ich nach der Abnabelung von dir entfernt, gewaschen und auf die Säuglingsstation gebracht. Und dir wurde nahegelegt, dich auszuruhen. Meine ersten Stunden auf der Welt war ich nicht bei dir. Und du konntest mich nicht berühren, mich nicht kennenlernen. Und ich konnte dich nicht spüren. Du warst fort, von einem Moment auf den anderen. Verstehst du? Getrennt von dir, von deinem Geruch, war ich die erste Woche meines Lebens in einem Säuglingszimmer. Und nicht nur ich, bis in die späten 1970er Jahre Geborene mussten das erleben. Es geht dir zu gut, Marius, und ich habe dich anscheinend doch zu sehr verwöhnt. Obwohl ich mich von Anfang an bemüht habe, keinen Haustyrannen aus dir zu machen, höre ich sie sagen. Und was du dir alles zusammenreimst, diese eine Woche nach deiner Geburt, daran kannst du dich ja gar nicht erinnern. Das hat dir sicher nicht geschadet. Du warst mit den anderen Babys auf der Station, du warst nicht allein. Die Schwestern waren da, so waren die Regeln. Ich wäre nie auf die Idee gekommen, dich ins Zimmer zu holen. Niemand hat das getan. Das war nicht vorgesehen. Aber eins weiß ich, das mich schonen hat wirklich gut getan. Zu Hause kam mit dir genug Arbeit auf mich zu und du bist, obwohl du mir diesen Vorwurf machst, sehr erfolgreich geworden. Ich sehe sie vor mir stehen, in ihrem beigen Kostüm, mit ihrem zu einem Knoten hochgesteckten Haar. Und da ist dieser Zorn, den ich empfinde. Und schon will ich wieder in Verständnis übersetzen und ihn verstehen. Das kotzt mich an. Ich muss. Mama, ein Baby kann niemals ein Tyrann sein, möchte ich rufen. Weißt du überhaupt, wie man sich eines Tyrannen entledigt? Ich sage nur Tyrannenmord. Du bist der Meinung, das wäre dann doch zu viel. Aber Todesangst soll ein Baby schon ausstehen. Und es hat Todesangst, wenn es alleine gelassen wird und weint. Ich höre dich lachen. Laut als Lachen höre ich dich. So weit entfernt bist du von deinen Gefühlen, dass du lachst, wenn ich dir von Todesangst erzähle. Es strengt mich an, mir vorzustellen, wie meine Worte an dir abtropfen. Dennoch werde ich diese imaginierten Gespräche mit dir weiterführen, wieder und wieder, bis... Ja, wüsste ich es nur. Manchmal ertappe ich mich sogar dabei, mir vorzustellen, wie einfach es wäre, hätte ich noch immer keinen Kontakt zu meinen Empfindungen. Dann wäre alles wie bisher. Ich wäre unglücklich und wüsste nicht, dass ich unglücklich bin. Ich könnte weitermachen wie die vielen Jahre zuvor und mein größter Wunsch wäre wohl, im Ranking der 100 besten Konsalter unter den ersten 20 aufzuscheinen und so weiter und so weiter. Und ich wäre wieder wie ein Soldat ganz neben mir und würde irgendwelchen Vorgaben folgen. Aber es ist schön, mich zu spüren. Ich bin jemand. Endlich bin ich jemand eigener. Schauspieler wollte ich werden, doch statt mich auf die Aufnahmeprüfungen vorzubereiten, habe ich Wirtschaftswissenschaften inskribiert. Ich war ja wie tot. In Mindeststudienzeit habe ich mich mit Auszeichnung studiert. Nach dem Diplom habe ich mich für einen Schauspielkurs angemeldet. Statt hinzugehen, habe ich eine Dissertation geschrieben. Nach der Promotion habe ich mir ein Round-the-World-Ticket gekauft. Statt in das Flugzeug zu steigen, habe ich in der Consulting-Firma meines Doktorvaters zu arbeiten begonnen. Auf meiner Visitenkarte steht Dr. Marius Tankwart mit Strategie zu Erfolg und Effizienz. Das ist jetzt vorbei. Guten Abend, Frau Merke. Danke für die Einladung. Schönen guten Abend, Frau Merti, danke für's Teil. Danke für die Einladung. Was mir auffällt ist, eine Frau schreibt einen Text über einen Mann. Ja, das stimmt. Das ist so passiert. Ich kann es gar nicht sagen, das war sehr bald sehr klar, dass der Hauptprotagonist ein Mann sein wird. Und ich glaube auch vielleicht, weil er zweifelt ja doch sehr viel und es passiert sehr viel in seinem Leben, die Frau Mundgold ist eine wichtige Person für ihn. Und ja, ich wollte, dass das ein Mann ist. Und wie ist es dir damit gegangen? Bist du da umgestiegen dann oder wie geht das? Ja, ich weiß nicht, das ist einfach gegangen. Da habe ich gar nicht so viel überlegt. Also es war die Idee, einfach ein Mann, der, es ist auch, weil er halt Consultant ist und weil natürlich das ein männlich dominierter Beruf ist, zumindest er ist sehr erfolgreich und das ist nach wie vor diese Ungleichheit Frauen und Männer natürlich und da war es auch von dem her klar, dass es ein Mann sein wird, das war also leider nach wie vor ein realistischer Aspekt, aber ich wollte dann auch zweifeln lassen und der soll nachdenken. Also ich habe das dann eigentlich ganz gut gefunden, dass das ein Mann ist. Ja, das finden Sie ja gut, dass eine Frau darüber schreibt, dass ein Mann geht. Das Wort Tschuldpe, glaube ich, heißt das. Tschuldpe, genau. Bist du auf das gekommen oder ist das ein Wort, das gibt es? Das gibt es nicht, das ist ein erfundenes Wort. Der hat einfach ein Wort bekommen, das ihm Halt gibt, oder dass er seine Sprache finden kann, oder das, was für ihn wichtig ist. Da hat er auch dieses Einschreibheft, da schreibt er alles seine. Und das ist so ein Unterstützungswort. Das Hotel Weitblick, heißt das deswegen Weit deswegen, weil er dort seine… Nein, das heißt einfach so, das ist so ein typisches Landhotel und es kommen ja dann noch vier Personen, mit denen er so ein Assessment Center abhält und sein Auftrag ist herauszufinden, wer von den Vieren geeignet ist, Geschäftsführer zu werden in dieser Werbeagentur, eine große Agentur. Und es funktioniert dann alles nicht. Also er macht nicht das, was die von ihm erwarten, er tut ganz was anderes. Und das eskaliert dann auch. Auf jeden Fall gerade nicht so. Nein, nein. Es gibt so viele Leute da draußen in der ganzen Welt, dass ich das Buch kaufen muss. Das muss man wert sein, oder? Das ist Hotel Weitblick. Wieso hat er sich für Mexiko entschieden? Ich muss gestehen, ich habe das Buch noch nicht gelesen. Kann man das sagen? Nein, er wollte nach Mexiko. Er wollte einfach weg und er wollte früher einmal nach Mexiko. Und Mexiko ist so ein Sehnsuchtsort. Aber das ist jetzt nicht so relevant. Nein, es ist nicht jetzt etwas Spezielles. Ja, ich sage Dankeschön noch einmal. Ja, sehr gerne, danke. Zu dir und auch zu den Damen und Herren zu Hause an den Bildschirmen oder an den Laptops oder was auch immer. Dankeschön fürs Dabeisein heute wieder bei der Vorlesestunde und wir sehen uns wieder in 14 Tagen, wenn es wieder heißt Vorlesestunde auf DorfTV. Dankeschön.