Winter. Es gibt überhaupt keinen echten Winter mehr, hört er die Kager von der Nachbarwohnung jammern, zur Hofinger von gegenüber sagen, gerade als er die vor der Wohnungstür liegende Zeitung herein holt. Was will denn die Unmöglichen? Meterhohe Schneewächten, das Auto vor der Haustür unbrauchbar, weil es zu mühsam wäre, es auszuschaufeln, um damit in die Arbeit zu fahren, öffentliche Verkehrsmittel, die Straßenbahn steht, weil ein Auto auf den Schienen hängen geblieben ist, ein vereister Gehsteig, der einem das Hinfallen erleichtert. Früher hat es wenigstens einen Hausmeister gegeben, der rechtzeitig gestreut hat. Aber die hat man abgeschafft, damit die Firmen mit Winterdienst ihren Profit machen. Doch die kamen meist zu spät. Wenn es aber so bleibt, braucht die Winterdienste eh niemand mehr. Naja, die Sandler konnten sich mit dem Schneeschaufeln wenigstens einen Schnaps verdienen. In der Zeitung haben sie neulich mit einem Foto über China lustig gemacht. Auf dem war ein weißes Schneeband mitten in der grünen Landschaft zu sehen. Aber warum soll es den Chinesen besser gehen als uns? Bei uns schaut es ja nicht anders aus. Kein Winter ohne Skirennen. Früher ging die Gefährdung für die Skiurlauber nicht von den Pisten aus, jetzt dagegen schon, weil die offenbar nur allzu leicht vom schmalen Schneeband abkommen. so leicht vom schmalen Schneeband abkommen. Aber im Grunde reicht so ein Bahnrad ohnehin für die, die sich einen Skiurlaub noch leisten können. Nein, in der Stadt brauche er keinen Schnee, sagt er sich, und kein Eis und keine Kälte. Die Nachbarin wahrscheinlich genauso wenig. Die fährt schließlich auch immer nur im Sommer weg, weil sie die Meerluft braucht. Und dann hat sie noch gemeint, ohne Schnee seien die Weihnachten auch keine Weihnachten. Soll sie sich doch eine DVD kaufen und sich stundenlang anschauen, wie der kleine Waldbauer einenub mit der Laterne in der Hand durch den hohen Schnee zur Mette stapft. Immer wieder, weil er doch zum Hochheiligenfest nicht erfrieren darf. Nein, er braucht das nicht. Klar, als Kind hat er sich gefreut, wenn der erste Schnee gefallen ist. Damals hat es noch Straßen gegeben, auf denen man rodeln konnte. Und selbstverständlich kommt er zum Fenster, wenn die Sabi mit dem üblichen freudigen Ton in der Stimme ruft, schau, es schneit. Eine halbe Stunde lang schaut es ja ganz hübsch aus. Aber dann muss man aus dem Haus und da ist der Schnee schon zu Matsch verkommen, der von Stunde zu Stunde dreckiger wird. Keinen Hund möchte man da noch hinausschütten. Die längste Zeit sitzt er nun schon da in seinem Lehnstuhl, die Zeitung ungelesen im Schoß, nur weil die Urschel gemeint hat, es gebe heutzutage keinen richtigen Winter mehr, denkt er und will schon die Zeitung aufschlagen. Doch dann fragt er sich, weshalb reden die Leute immer von Winterfreuden? Gut, die Schneemännerbauzeiten und die Schneeballschlachtzeiten sind für ihn längst vorbei, wobei auch damals die Freuden begrenzt waren, wenn einem ein Schneeball im Nacken traf und dann das eidige Schmelzwasser den Rücken hinunterran oder das kleine Arschloch vom Nachbarhaus aus der Karottennase einen Karottenpimmel machte beziehungsweise den Schneemann sonst wie verunzierte. Was verbindet man am meisten mit Winter? Wintersport. Es gibt schließlich keinen Frühlings-, Sommer- und Herbstsport. Wenn es kein Wintersport, dann ist es nur Sport. Gewissermaßen zum Ausgleich gibt es die Sommerrodelbahn. Winterreifen. Reifen sind nur dann Sommerreifen, wenn man mit ihnen in der Zeit der Winterreifenpflicht einen Unfall baut oder auf andere Art den Verkehr behindert. Wenn es allerdings keinen Winter mehr gibt, braucht man weder Winterreifen noch Winterreifenpflicht. Winterstürme. Im Frühling gibt es Maillüfterl, im Sommer nichts Besonderes, Herbststürme ja, die kündigen gewissermaßen den Winter an. Dann sollten die Häuser winterfest sein. Den Winterdienst hatte er schon. Winterreise. Schubert hat einen Zyklus ziemlich depressiver Gedichte von Wilhelm Müller unter diesem Titel vertont. Sonst wäre es wohl eine Frühlings-, Sommer- oder Herbstreise geworden. Winterlandschaft. Auf Fotos recht hübsch, gibt es aber auch nicht mehr, wenn es keinen richtigen Winter mehr gibt. Nur weiße Schneebandeln auf grünen Wiesen. Ewig kann es nicht Winter sein, der Winter als Synonym für Gewalt und Unterdrückung. Schließlich schlägt er doch die Zeitung auf und gleich auf der dritten Seite ein Artikel, in dessen Titel Winter vollkommt. Die viel zu hohen Temperaturen in dieser Jahreszeit ein Zeichen mehr für die Erderwärmung. Gleiches gelte aber auch für die gierende Kälte in anderen Weltgegenden. Und Starkregen, Dürre und Hochwasser, so oder so Ernteausfälle. Bei einer Erderwärmung um 1,5 Grad bis 2100 steigt der Meeresspiegel um 35 Zentimeter. Bei 2 Grad gleich um einen halben Meter. Dann doch lieber ein bisschen richtigen Winter. Sein Auto kann es ihm nicht mehr einschneiden, weil er einen Garagenplatz hat. Und seit sie beide in Pension sind, fahren sie ohnehin mehr mit öffentlichen Verkehrsmitteln. Eine Bahnfahrt hat auch ihre Reize, sagt er sich, als der Savi aus der Küche rufen hört. Ich glaube, es beginnt zu schneien. Na, da kann sich die Kager freuen. Danke.