Ich lese einen Auszug aus einem Romanmanuskript mit dem Titel Containerbewegungen. Die Stadt liegt im Sterben, verendet langsam. Der gläserne Bahnhof zerbricht wie eine Eisfläche im nahenden Frühjahr. Hauser erreicht das Bahnhofsareal zu Fuß. Der öffentliche städtische Verkehr ist mittlerweile fast zur Gänze zusammengebrochen. Busse, Straßenbahnen wurden ins befreundete Ausland verscherbelt oder in die westlichen Regionen des Landes verbracht, um dort in den Tourismusgebieten ihren Dienst zu verrichten oder als Ersatzteillager für die maroden Liftanlagen, Seilbahnen und Schneekanonen zu dienen. Liftanlagen, Seilbahnen und Schneekanonen zu dienen. Die automatischen Schiebetüren im Eingangsbereich öffnen nicht mehr, wenn man an sie herantritt. Andere schließen nicht, nachdem man sie passiert hat. Diese schon lange nicht mehr in Betrieb befindliche Rolltreppe ist übersät mit E-Scootern oder was von ihnen übrig geblieben ist. Es wirkt wie eine raumgreifende Installation eines Künstlerkollektivs, das zu viel Geld zur Verfügung hatte und sich hier ein letztes Mal austoben konnte. Aber Kunst ist nicht mehr vorhanden, schon gar nicht im öffentlichen Raum. Im Westen und Süden wird dem Brauchtum gehuldigt, dem Volkstum, das wollen die Touristen so. Jetzt im grauen, düsteren November zieht ein kalter Wind durch das ganze Gebäude. Der Boden ist verdreckt und klebrig, die meisten Bahnhofshops ausgeräumt, geplündert und leer, das Inventar zerschlagen. So auch der ehemalige Zeitungs- und Buchladen. Hier wurde ein Großteil der Bücher zensiert. Irgendjemand hatte die Idee, bei den für die Zensur vorgesehenen Büchern den Buchschnitt mit Leim einzustreichen und wieder ins Regal zu stellen. Hier wurden vorerst keine Bücher verbrannt, sie wurden nur unlesbar gemacht. Erst später, als sie als billiges Heizmaterial verkauft wurden, sollten sie ein Raub der Flammen werden. Einige Restbestände sind aber noch vor Amten. In einer Ecke des Zeitschriftenladens steht ein älterer Mann mit heruntergelassener Hose vor einer Wand mit einem kleinen Rest von Hochglanzmagazinen, die vermutlich übersehen worden sind und masturbiert. Der Glanz ist jedoch ermattet. Dagegen ist die ehemalige Blumenhandlung Flora fast ein Hort der Schönheit. Mit ihren verdurrten Blumen und Pflanzen hat es schon fast was Märchenhaftes. Ein vertrocknetes Abbild der Vergänglichkeit hinter einem Vorhang aus dem Staub der Erinnerung. Im ehemaligen Fastfood-Restaurant hat sich ein sogenannter Spalter und sein Gehilfe eingerichtet. Sie zerkleinern hier alte beschädigte Transportpaletten, Schalltafeln, Reste von Regalen aus dem Inventar von Bahnhofslokalen und Büros. Er verkauft es dann als Heizmaterial für kleines Geld. Spalter ist ein neues Berufsbild, aber auch die Gewalt in den Straßen bringt alte, längst ausgestorben geglaubte Berufe wie den Abdecker zurück. Viele Tiere liegen auf den Straßen, verhungert oder sonst wie zu Tode gekommen, bleiben sie liegen. Auch um die toten Menschen muss sich jemand kümmern. Die bringt man dann doch weg, irgendwann. Ein anderer ehemaliger Bahnbediensteter fertigt Papierbriketts aus alten Zeitungen. Er hat sich dazu in der Schlosserei eine Brikettpresse gebastelt, mit der aus in Wasser eingeweiften Zeitungspapier Papierbriketts presst und zum Trocknen in der Bahnhofshalle auflegt. Doch es ist zu befürchten, dass sie in diesem Winter nicht mehr trocknen. Im Untergeschoss seitlich der stillstellenden Rolltreppe, die zu den Bahnsteigen führt, liegt ein lebloser Körper. Vielleicht ist es auch nur eine Schaufensterpuppe. Hauser kann es von seinem Standpunkt aus nicht genau erkennen. Hauser benötigt eine neue Brille. Sein Seebehelf ist zerbrochen, als es bei seinem verpflichteten Bewerbungsgespräch bei der Tourismusagentur zu einem kleinen Handgemenge kam, der sich anfangs weigerte, eine Stelle im westlichen Bergland oder im südlichen Seengebiet anzunehmen. Aber auch hier an der Brüstung im Obergeschoss fehlen Glaselemente. Und genau darunter liegt der reglose Körper. Tauben haben sich kurend auf den Stahlträgern der imposanten Konstruktion eingenistet, flattern nervös durch die Halle und haben sich gegen die Konkurrenz der Drohnen durchgesetzt, die zerschellt im und vor dem Bahnhof verstreut am Boden liegen. Einzig der Supermarkt im Untergeschoss scheint noch in Betrieb zu sein. Allerdings liegen vor den beiden Schiebetüreingängen zahlreiche Einkaufswagen, eine Barrikade ineinander verkeilt wie Panzersperren. Die Regale sind gut gefüllt mit neutral verpackten Grundnahrungsmitteln wie Mehl, Nudeln, Margarine, Zucker und Schnaps. Am Abend wird aber wieder alles leergeräumt sein. Den Einlass kontrolliert ein Mitarbeiter in einer dieser seltsamen Fantasieuniformen, die derzeit überall im Straßenbild auftauchen. Jogginganzüge in den verschiedensten Farben, billigst irgendwo in Fernost produziert, an denen irgendwelche Sticker angebracht sind, die über die Funktion und Position der diese Jogging-Uniformen tragenden Personenauskunft geben sollen. Der zuständige Mitarbeiter sitzt an einem behelfsmäßig aufgestellten Tisch und stellt mit einer alten mechanischen Schreibmaschine Lebensmittelkarten aus. Heute bekommt jeder Registrierte eine gewisse Anzahl an Lebensmitteln. Morgen wird für den Einkauf vielleicht wieder Bargeld verlangt. An anderen Tagen kommt möglicherweise eine Hilfslieferung aus dem Ausland oder von einer der letzten kreditativen Organisationen an, die dann verteilt wird. Aber es gibt auch Tage, an denen es einfach nichts gibt. Die Endanzeigetafel in der Bahnhofshalle, die die Abfahrtszeiten der Züge anzeigen soll, funktioniert nur noch flackernd und flimmernd. Sie zeigt auch nicht die neuesten Verbindungen an. Sie wird inzwischen für Werbebotschaften genutzt, die da lauten, auf nach Westen oder wir brauchen dich oder was hält dich noch hier. Dankeschön. Thank you.