Das Gewebe der Welt. Ich springe auf und werfe Heinrich unsagbare Dinge an den Kopf, die nun dummerweise doch gesagt werden, obwohl sie nicht ihm gelten, auch nicht den Nationalsozialisten, obwohl die betrifft es gewissermaßen schon. In erster Linie aber adressiert sich meine vorwurfsvolle Tirade an die große, große Ungerechtigkeit, die unsere große, große Welt überflutet. In meiner grenzenlosen Wut veräußert sich der Schmerz über das, was uns alle angeht. Mein zielloses Gebrüll schneidet im Wettstreit mit nationalsozialistischem Gebrüll schlecht ab, denn anders als ich definieren sie das Ziel ihrer Wut durchaus klar und vermengen es mit gezieltem Hass, während ich Heinrich nicht hasse, sondern er sich nur gerade zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort befindet. Er hat Pech, so könnte man sagen, dass er sich hier bei mir in Griffnähe befindet und ich weit und breite niemanden ausmachen kann, den ich an seiner Stadt niederbrüllen könnte. Die Nazis aber unterscheiden zwischen Freund und Feind, zwischen den eigenen Leuten und den anderen. Und ihr Gebrüll richtet sich selten auf die ihnen am nahestehendsten, sondern stets auf diejenigen, von denen sie meinen, sie stünden am weitesten von ihnen entfernt. Nicht räumlich, aber ideologisch, ethnologisch, unlogisch. Brüllen, wüten und toben jedoch kann ich ebenso laut und unrücksicht und ebenso verletzend. Und auch wenn mein Gebrüll kein Leben tötet, so tötet es doch die Liebe. Und in dem, was ich anrichte, in dem ich die Liebe töte, ähnel ich gewissermaßen den Faschisten, auch sehe ich kaum anders aus als sie. Denn Anhänger rechtsextremischer Ideologie ähneln äußerlich den Nicht-Anhängern, aber wir lehnen es ja ohnehin ab, Menschen nach Äußerlichkeiten zu beurteilen. Wer sind wir, von denen ich hier rede? Ja, keinem Menschen ist anzusehen, was er denkt und wie viel Hass in ihm wohnt. Und brüllende Nazis, die in SS-Uniformen durchs Zimmer herum wüten, laufen vermutlich häufiger durch Filme, die über sie gedreht werden, als durch die Realität, da nur manchmal. Denn in der Realität kleiden sie sich in Zivil, spazieren im Gewand des Mediziners umher oder des Juristen oder sind in jedwede andere beliebige berufliche Uniform gekleidet. Sie spielen Querflöte und bewegen sich meist auffällig, unauffällig unter uns und wir mit Ihnen. Die Schreihälse, die man sogleich an ihrem bellenden Ton erkennt und an Ticks in ihrem Gesicht, sind demnach nichts anderes als Erfindung. Auch wenn sie nur erfunden worden wären, ohne je Wirklichkeit gewesen zu sein und immer wieder werden zu können. Brüllend durchs Zimmer laufend aber kann ohnehin ein jeder und eine jede, ich weiß, wovon ich rede, Heinrich auch. Einmal nur wird es ihm zu viel und er ruft, du regst dich über Gewalt auf und hiebst mir gewaltsam ins Herz. Doch schon verkriecht sich sein Herz unter meinen Hieben wieder wie gewöhnlich in seinem Panzer aus Stahl. Ich dagegen habe weder je Bedarf verspürt, mir eine Rüstung zulegen zu wollen, die mich vor überwältigenden Gefühlen wie Freude, Schmerz oder Wut schützt, noch mich mit der Idee anfreunden können, dass es für irgendetwas gut sein soll, Krieg zu führen, obwohl ich dafür oftmals als naiv beschimpft werde und zudem soeben selbst einen Krieg begonnen habe. Es ist immer schwer vorauszusagen, wie wir uns verhalten werden. Mein Angriff trifft auf Wehrlosigkeit. Dennoch schlage ich weiter auf Heinrich ein, ausgerechnet auf ihn, und niemand ist zur Stelle, der mich aufhielte. Zudem wehne ich mich im Recht, weil ich Heinrich ja nur zwingen will, zu sehen, was ich sehe, zu fühlen, was ich fühle. Ich schimpfe ihn einen Feigling. Nichts weiter als ein schwaches Tierchen sei er. Dazu bestimmt, vom Stärkeren gefressen zu werden. Die Worte muss ich irgendwo entlehnt haben und gebe sie nun an den Nächstbesten weiter, der doch der mir Nächste sein sollte. Denn so tun wir das mit Worten. Wir reichen sie weiter, ohne sie auf ihren Ursprung hin abgeklopft zu haben. Statt Heinrich zu sehen, meinen Heinrich, den ich liebe und dessen Haut ich eben noch an der meinen gespürt habe, sehe ich jemanden, der sich in seinem kleinen Leben verschanzt, in einer Welt, die ihre in Wahrheit hässliche Fratze nur so lange verbirgt, wie wir entdecken, dass sie sich aus einem einzigen Leib zusammensetzt. Ja, nur solange wir glauben, unbehelligt zu sein von dem Leid anderer, gelingt es uns, froh zu sein über dieses kleine Leben, bis wir dann unvorbereitet und unvermittelt überwältigt werden. Ja, denke ich, fühl dich nur sicher, doch ehe du dich versiehst, wirst du dem Schrecken ausgeliefert, den du nicht hast kommen sehen, in deinem dich sicher fühlen. Du bist blind, schreie ich. Du siehst weder mich, noch die Unmöglichkeit der Welt, noch irgendetwas Gutes abzugewinnen, weder meine Erschöpfung, noch die Erschöpfung der Leute, dort draußen, auf den Straßen. Schau doch nur, an jeder Ecke stinkt die Verelendung zum Himmel und du weißt, wohin sie uns führt. Immer ist es die Verelendung, die dem Faschismus vorausgeht und der Himmel ist verhangen mit den Rauchwolken vergangener Zeiten. Schaust du denn nicht? Ich erreiche Heinrich nicht länger. Und auf einmal fühle ich mich als Opfer und Heinrich ist der Täter und deshalb fahre ich fort. Unerbittlich bekriegen wir uns weiter, er schweigend, ich schreiend und statt innezuhalten und einander wahrzunehmen, als das Gegenüber, dem wir gewöhnlich voller Zärtlichkeit und Verständnis begegnen, beginnen wir einander zu entwerten. Und je länger der Streit andauert, desto überzeugender gelingt es. Und ich bin froh, denn ohne die Entwertung wäre es mir kaum möglich, in dieser unerbittlichen Weise auf Heinrich einzudreschen. Und wohin dann? Mit meiner Wut? Auf welches Ziel soll ich sie lenken? Es benötigt die Entwertung. Ansonsten wäre es uns nicht möglich, uns zu verletzen, nicht möglich, Kranke zu töten, Frauen zu schlagen, Juden zu vernichten, Völkermord zu begehen oder den Freund herabzusetzen, bis er wie ein Häuflein Elend auf dem Bett sitzt und einige Worte zusammensucht, um Gnade zu erbitten. Gnade, flüsterte er, ich liebe dich, aber es gelingt mir nicht, mich zu beruhigen und dieser Liebe zu vertrauen oder ich habe vergessen, was Liebe ist. Wenn es jedoch nicht einmal möglich ist, Liebe zu leben zwischen zwei Liebenden, wie nur soll es dann der Welt gelingen, der guten, lieben Welt? Ach, wenn wir doch nur willens wären, unseren Weg zu gehen, auf der Suche nach Erkenntnis oder dem goldenen Vlies oder dem Schatz der Inkas, ohne ihn gewaltsam beschreiten zu müssen. Was kann ich tun? Vielen Dank.