Guten Abend, meine sehr geehrten Damen und Herren, liebe Literaturinteressierte, herzlich willkommen im Stifterhaus. Mein Name ist Sarah Püringer und ich freue mich sehr, Sie heute durch den Abend begleiten zu dürfen. Wir treffen uns zur zweiten Veranstaltung unserer neu aufgenommenen Reihe Neue Stimmen – Debüts aus Österreich. Ich beginne mit Paula Lopez, die heute aus ihrem Roman die Summe unserer Teile liest. Schön, dass Sie da sind und den Weg aus Berlin auf sich genommen haben. Herzlich willkommen, Paula Lopez. Paula Lopez wurde 1988 in Wien geboren, ist Mathematikerin und arbeitet derzeit als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Bremen. Ihr Debütroman ist im März im Tropenverlag erschienen. Für die Arbeit daran wurde sie mit dem Theodor-Körner-Preis 2023 gefördert. Arbeit daran wurde sie mit dem Theodor Körner-Preis 2023 gefördert. Spannend ist, dass Lopez, jüngste Protagonistin Lucy, ebenfalls eine akademische Laufbahn eingeschlagen hat und Informatik studiert. Die Autorin selbst promoviert interdisziplinär über künstliche Intelligenz. Im Zentrum des Romans stehen mit Lucy insgesamt drei Frauen, Großmutter, Mutter und Enkelin. Sie verbindet nicht nur ihre familiäre Beziehung, sondern auch ihre wissenschaftlichen Karrieren. Wir folgen ihnen durch verschiedene Jahrzehnte und in verschiedene Städte nach Sobot, Berlin, Beirut und München. Die jüngste Protagonistin Lucy begibt sich auf die Suche nach ihren Wurzeln und möchte die Lücken in der Familiengeschichte füllen. Paola Lopez erzählt von komplexen Mutter-Tochter-Beziehungen und den feinen Abhängigkeiten, die sich über Generationen hinwegziehen. Sie spannen in ihrem Debütroman einen beeindruckend komponierten Bogen über Identität, Erinnerung und Herkunft. Kommen wir zu unserer zweiten Gästin heute Abend, Amira Ben-Saud. Auch sie heiße ich herzlich willkommen im Stifterhaus. Schön, dass Sie da sind. Amira Ben-Saud wurde 1989 in Weidhofen an der Thaia geboren, hat klassische Philologie, Kunstgeschichte und Komparatistik in Wien studiert. Sie war Chefredakteurin des Popkulturmagazins The Gap und ist Ihnen vielleicht als Kulturredakteurin beim Standard bekannt. Ihr Debüt-Roman Schweben ist wie das Buch von Paula Lopez in diesem Frühjahr erschienen und zwar bei Hansa. Darin entwirft Ben Saoud eine Welt, in der Gewalt scheinbar verschwunden und der Klimawandel längst vollzogen ist. Die Hauptfigur lebt in einer abgeschlossenen Siedlung, verdient ihr Geld damit, andere Frauen zu imitieren. Für Angehörige, die den Verlust von Ehefrauen, Töchtern oder Geliebten nicht verkraften. Dabei beginnt sie selbst an ihrer Identität zu zweifeln. Fragen nach Selbstbild, Systemzwängen, Endlichkeit und gesellschaftlichen Rollen durchziehen den Roman. Daniela Striegel schrieb kürzlich in der Presse, Zitat, Amira Ben-Saud hat einen scharfen Blick für Machtverhältnisse im Großen wie im Kleinen, vermeidet jedoch Schuldzuweisungen. Ihr Stil wirkt bewusst unprätentiös, ihr Ton nüchtern, Haarsträubendes erzählt sie beinahe beiläufig. Ich verrate jetzt nicht, wie der Roman zu seinem Titel schweben gekommen ist, das spielt auf jeden Fall eine zentrale Rolle. Vielleicht erfahren wir dann im Gespräch oder der Lesung ja noch Näheres, ansonsten werden Sie das auch bei der Lektüre entdecken. In einem Interview hat Amira Ben-Saoud übrigens verraten, welche AutorInnen sie inspiriert haben. Marleen Haushofers, die Wand, war scheinbar für die Atmosphäre des Romans wichtig. Marleen Haushofers Die Wand war scheinbar für die Atmosphäre des Romans wichtig. Und durch den Abend wird uns heute wie auch schon beim Auftakt Christine Scheucher führen. Schön, dass Sie wieder bei uns sind. Herzlich willkommen. Christine Scheucher ist erfahrene Literaturjournalistin und Moderatorin, hat Vergleichen der Literaturwissenschaften in Wien und Berlin studiert und war viele Jahre Korrespondentin für das Ö1 für Hedon Diagonal. Für ihre journalistische Arbeit wurde sie mehrfach ausgezeichnet und moderiert regelmäßig Literaturformate wie die literarische Soiree. An Christine Scheucher darf ich nun auch das Wort übergeben. Ich wünsche uns allen einen spannenden Abend. Vielen Dank. Herzlich willkommen. Wir freuen uns sehr, dass Sie hier sind. Eine Debütreihe ist ja mit gewissen Risiken verbunden, denn es gibt ja nicht so viele Debüts in einem Jahr und nicht alle sind gut, aber Frau Bühringer hat auf jeden Fall sehr, sehr spannende Debüts bisher in dieser Reihe ausgesucht. Wir sprechen jetzt gleich mit Amira Ben-Saud über den Roman Schweben. Sie ist bekannt als Journalistin, hat für The Gap gearbeitet, natürlich auch für den Standard, sie schreibt immer noch für den Standard. Und jetzt in diesem Debütroman betreten wir mit der Autorin, beziehungsweise mit einer Ich-Erzählerin eine postapokalyptische Welt. Wir befinden uns in einer Welt nach dem ökologischen Kollaps. Offensichtlich hat irgendeine Art von Klimakatastrophe weite Teile der Welt eigentlich unbewohnbar gemacht. Die Menschen, die es noch gibt, leben in abgeschotteten Siedlungen. Sie werden eigentlich überwacht von einem obersten Überwachungsapparat. Und vor allem gibt es gewisse Dogmen in diesen Siedlungen. Eine davon ist, dass man sie auf keinen Fall verlassen darf, denn wer das Außen betritt, wer das Drinnen verlässt, so heißt auch die Rahmenkapitel dieser Romane, heißen so drinnen, draußen, der ist bedroht zu sterben. Der geht eigentlich in den Tod, das zumindest ist das Narrativ. Und was interessant ist und was vielleicht auch etwas sagt über autoritäre Regime in dieser Ordnung, in diesen Siedlungen, ist es unter anderem verboten, einerseits ist Gewaltausübung verboten, was ja etwas Gutes ist, was aber nur bedingt funktioniert, weil die Menschen verschiedene Methoden gefunden haben, ihre Wut und ihre Aggression zu kanalisieren. Andererseits, Amira Ben Saoud, ist es auch verboten, an die Vergangenheit zu denken, an das Davor zu denken. Also es ist eine gewisse Geschichtsvergessenheit, macht sich in dieser Siedlung breit. Oder ist eigentlich die Doktrin, keiner weiß so genau, wie dieser Zustand zustande gekommen ist. Warum haben sie denn diese geschichtsvergessene Welt ersonnen? Eigentlich glaube ich mehr, weil ich das Gefühl habe, dass auch wir relativ wenig über, wenn wir jetzt sagen, wenn ich dich jetzt fragen würde, wie genau hat die Welt vor tausend Jahren ausgesehen, natürlich wüsstest du ein bisschen was, aber wirklich vorstellen könntest du es dir wahrscheinlich auch nicht. Und das ist, glaube ich, mehr ein Spiegel dafür, also diese ganze Welt ist ein bisschen eigentlich ein Spiegel für unsere Welt, in der das ja anders, aber doch auch sehr ähnlich ist. Das erste Kapitel und das letzte Kapitel sind in der Ehe oder in der Sie-Form geschrieben, das ist eine Art Rahmen, aber den Großteil der Erzählung erleben wir aus der Perspektive einer Ich-Erzählerin. Deshalb wissen wir eigentlich auch nicht mehr als sie selber. Also wir wissen auch nicht so genau, was ist da überhaupt passiert, warum gibt es diese seltsamen Siedlungen. Dann gibt es offenbar so Transportwege zwischen den Siedlungen, aber keiner, wie gesagt, weiß genau, was ist eigentlich jenseits der Grenze, was wartet da. Und diese Ich-Erzählerin hat ein interessantes Geschäftsmodell entwickelt, das so ein bisschen an das postmoderne Identitätsshopping erinnert, und zwar sie stellt Begegnungen nach, also sie schlüpft in die Rolle von Personen, die sozusagen einer Person abhanden gekommen sind. Zum Beispiel ein Kind ist nicht mehr greifbar oder eine Ehefrau verlässt jemanden und sie stellt dann diese Figur dar. Und sie hat so viele Figuren im Laufe der Zeit dargestellt oder Personen, dass sie ihren eigenen Namen vergessen hat. Was ist das für eine Figur und wie sind Sie auf die Idee gekommen, diese Figur zu erfinden? Also ich glaube, der Kern der Geschichte ist schon die Frage, wie wiederholen wir unsere Beziehungsmuster. wie wiederholen wir unsere Beziehungsmuster. Also ich habe irgendwie oft in meinem Umfeld die Beobachtung gemacht, nicht nur in meinem Umfeld, dass gerade in romantischen Beziehungen, wenn die dann enden, oft der nächste Partner, die nächste Partnerin wieder sehr stark, also sich die Dynamik dieser Beziehung, vor allem wenn es eigentlich nicht so gute Beziehungen waren, sich wieder sehr stark dem ähnelt, was davor war. Und das hat mich irgendwie interessiert, warum ist es so, warum bleibt man immer in diesen Mustern, auch wenn man weiß, dass sie einem eigentlich nicht so besonders gut tun. Will man immer nur dieses Bekannte wieder, ist es, weil man es kennt? Glaubt man, dass man selbst nichts Besseres verdient? Also diese ganzen Fragen sind eigentlich im Zentrum dieses Romans, während diese ganze Siedlung, das ist erst auch im Laufe des Schreibens dazu gekommen, mehr da so einen Rahmen bildet. Aber der Kern der Geschichte ist eben diese Frage danach, einen Rahmen bildet, aber der Kern der Geschichte ist eben diese Frage danach, wie wir in Beziehungen auch das suchen, was uns halt vielleicht nicht gut tut. Aber sie zeichnet sich ja da durchaus, also am ganz Anfang, wir lernen sie kennen, heißt sie, glaube ich, Ona, da spielt sie eine Tochter, die sozusagen sich von ihrer Mutter verabschiedet hat und dann bereitet sie sich auf den nächsten Klienten vor, so ein erfolgreicher Developer oder ich weiß nicht, wie man es nennen soll, so ein Bau zu Siedlungen, in der Siedlung. Und dessen Frau hat ihn verlassen und sie hat jetzt die Aufgabe, quasi diese Frau zu ersetzen als Surrogat und sie macht das auch sehr wirklich mit so wie Method-Acting mäßig, mit Liebe als Surrogat und sie macht das auch sehr wirklich mit so wie Method-Acting mäßig, mit Liebe zum Detail, also sie nimmt dann auch zu, sie färbt sich die Haare, sie macht sich die Nägel neu, sie versucht also wirklich den Habitus dieser Figuren anzunehmen. Ich meine, wie kommt man auf die Idee, sozusagen so ein Berufsbild sich einfallen zu lassen? Im Fall von ihr ist es ja so, dass es da schon in ihrer Jugend quasi eine Art von traumatischer Erfahrung gibt, wo sie unwissentlich in eine Rolle gedrängt wurde, über die sie nichts wusste, wo sie quasi als Ersatz für eine Tochter eigentlich missbraucht wurde, muss man sagen. Und ich glaube, wir wissen recht wenig über diesen Charakter, wir wissen sehr wenig über diese Frau, wir wissen auch nur das, was sie uns erzählt und sie hat sehr viel offensichtlich verdrängt, aber nämlich auch ihren eigenen Namen. Aber ich glaube, diese Distanzierung von sich selbst ist auch einfach eine Distanzierung von dieser Gewalt, die sie da erfahren hat und ihre Art und Weise, damit umzugehen, ist das quasi in so einer Form von vielleicht ein bisschen falsch verstandener Selbstermächtigung zu versuchen, damit, womit ihr wehgetan wurde, jetzt zu ihren Bedingungen quasi zu nutzen. Also quasi sich einen Handlungsraum zu schaffen in einem patriarchalen System, in einem System, das sehr enge Regeln hat und zu versuchen, aus diesem Leid, das ihr da selber auch widerfahren ist, sich eine Identität zu schaffen, die darin besteht, andere Leute zu sein. Das ist natürlich ein bisschen fucked up. Oder die Identität permanent zu wechseln, was ja auch in der Popkultur bei Madonna oder so durchaus auch ein Geschäftsmodell war. Es ist aber bei uns allen so, dass wir permanent in unterschiedlichen Rollen unser Leben leben, natürlich nicht in der Drastik, wie das hier passiert und auch vielleicht nicht in der Selbstvergessenheit, wie das hier passiert und auch vielleicht nicht in der Selbstvergessenheit, aber wir alle haben Rollen im Job, daheim, als Freundin, whatever, wo wir gewissermaßen andere Menschen sind, unterschiedliche Menschen. Gut, dann schlage ich vor, wir hören die erste Textpassage. Wir befinden uns, wie gesagt, in einer Siedlung. Es gelten zwei große Regeln. Es darf keine Gewalt angewendet werden. Und man darf diese Siedlung auf keinen Fall verlassen. Denn das ist ein Todesurteil. Und wir lernen jetzt die Ich-Erzählerin kennen und ihren Klienten. Und es kommt zu einer ungewöhnlichen Begebenheit in dieser Siedlung. Genau. Und es kommt zu einer ungewöhnlichen Begebenheit in dieser Siedlung. Genau, also sie hat jetzt sich schon in die Rolle dieser Ex-Frau von Gil, die heißt Emma, begeben. Und diese Beziehung ist halt eher so eine giftigere Beziehung. Der Mann ist auch durchaus gewalttätig, auch wenn das verboten ist. Er ist es trotzdem, psychisch wie auch physisch. Und er hat ja gerade eigentlich mehr oder weniger verboten, aus dem Haus zu gehen. Also er hat ja die Schlüssel abgenommen und da beginne ich jetzt. Ich glaube nicht, dass er mich wirklich aufgehalten hätte, wenn ich gegangen wäre. Aber ich tat es nicht. Ich überreichte ihm die Schlüssel und sagte mir währenddessen, dass ich schon noch dahinter kommen würde, was hier vorging. Ich klammerte mich an die Hoffnung, dass ich Gil die Wahrheit noch abbringen würde, auch wenn ich keine Beweise hatte. Dass es meine Entscheidung war, zu bleiben, ich die Kontrolle über mein Leben hatte, nicht er. Und trotzdem zuckte ich jedes Mal zusammen, wenn er mich in den nächsten Wochen anfuhr oder nur einen zu schnellen Schritt auf mich zumachte. Er hatte mich nicht geschlagen, aber er war grober geworden, in Worten, in Taten. Und als ich eines Nachmittags die Tür ins Schloss fallen hörte, um eine Uhrzeit, zu der er zu Hause nichts zu suchen hatte, blieb mir fast das Herz stehen. Was half das schon? Ich hörte seine Schritte. Er war bereits im Schlafzimmer. Schon öffnete er die Tür zum Bad. Da bist du. Ich war gerade mit dem Sport fertig gewesen und stand unter der Dusche. Ich drehte das Wasser ab, öffnete die angelaufene Glastür und steckte den Kopf raus. Bevor ich noch fragen konnte, warum er da war, begann er schon aufgeregt zu erzählen. Sie schicken jemanden ins Exil. In einer halben Stunde geht es los. Komm, beeil dich. Ich war heilfroh, dass das der Grund seines Kommens war, bis mir klar wurde, was das bedeutete. Zum ersten Mal wollte er mit mir das Haus verlassen. Genau das tun, was er immer kategorisch ausgeschlossen hatte, weil man uns zusammen sehen könnte. Und jetzt wollte er nicht nur mit mir in die Öffentlichkeit, sondern direkt in einen Menschenauflauf hinein. Ich wusste, dass er wütend werden würde, wenn ich ihn darauf hinwies, so aufgeregt wie er war. Also stieg ich aus der Dusche, trocknete mich ab und versuchte, Also stieg ich aus der Dusche, trocknete mich ab und versuchte ruhig zu bleiben. Ruhig und rational. Ich habe ganz nasse Haare, magst du nicht allein gehen, sagte ich. Meine Güte, ich bin extra gekommen, um dich zu holen, damit du mal was erlebst. Willst du immer hier zu Hause rumkleben? Er schien sich selbst nicht als den Grund dafür zu verstehen, dass ich zu Hause bleiben musste. Ich war sprachlos. Sie inszenierten es nicht oft öffentlich, wenn sie jemanden ins Exil schickten, aber es kam vor. Ich hatte es mir noch nie angesehen. Ich empfand es als unmenschlich, die Handlung selbst, aber dabei hinzuklotzen noch mehr. Wieso bist du denn immer so? Komm, komm schnell. Er ließ mich im Bad stehen. Während ich mich fertig machte, ich hatte mir gerade die Unterwäsche angezogen, wurde mir unglaublich schlecht. Ganz deutlich sah ich von mir, dass sie Juri wegschicken würden, sah es so klar, als wäre es schon passiert. Ich rutschte auf den Boden und versuchte mich zu sammeln, mir zu sagen, dass das doch absurd war. Wieso denn gerade ihn? Aber es half nichts. Kommst du jetzt verdammt, rief er. Gleich würde er richtig wütend werden. Ich antwortete nicht. Ich konnte nicht. Kurze Zeit später stand er wieder im Bad. Mir geht's nicht gut, presste ich hervor. Er ging in die Hocke, sodass wir auf Augenhöhe waren, legte seine Hand auf meine Stirn, um zu überprüfen, ob ich Fieber hatte. Kurz dachte ich, dass er mich einfach ins Bett bringen würde. Aber nachdem er mich ein paar Sekunden lang vermessen hatte, packte er meine Arme und zerrte mich vom Boden hoch, Nachdem er mich ein paar Sekunden lang vermessen hatte, packte er meine Arme und zerrte mich vom Boden hoch, nahm das Kleid, das ich vorbereitet hatte, und zog es mir über den Kopf. Ich versuchte mich zu wehren, hatte aber zu wenig Kraft. Er setzte mich auf den Waschtisch wie eine Puppe, griff nach der Strumpfhose und stülpte sie gegen den Widerstand, den die Feuchtigkeit leistete, über meine Beine. stülpte sie gegen den Widerstand, den die Feuchtigkeit leistete über meine Beine. Währenddessen murmelte er immer wieder, dass ich zu nichts zu gebrauchen wäre und immer nur simulieren würde. Er scheuchte mich ins Erdgeschoss, wo er mich in eine Jacke steckte und mir Schuhe anzog. Sobald er mich aus dem Haus manövriert hatte, änderte sich seine Stimmung schlagartig. Er hatte sich eines dieser fahrenden Ersatzteillager aus dem Firmenbesitz ausgeborgt, deren Akkus nur so kurz hielten, dass man nicht besonders weit mit ihnen kam. Für meinen Liebling nur das Beste, sagte er stolz und verbeugte sich leicht vor mir. Er machte mir die Tür des Autos auf, ich kroch auf den Beifahrersitz, die Strumpfhose irgendwo bei den Knien. Während wir ostwärts fuhren, erzählte er mir atemlos, was passiert war. Ein junger Bursche war getötet worden. Man hatte seine Leiche über den Abgrund gestoßen, um es wie einen Suizid aussehen zu lassen. Doch wurden neben den Fußabdrücken des Opfers weitere gefunden. den Fußabdrücken des Opfers weitere gefunden. Später sagten jene, die zu den Abdrücken gehörten, sie hätten ihren Freund zurückhalten wollen. Sie hatten wohl nicht erwartet, dass man die Leiche überhaupt finden, geschweige denn der Sache nachgehen würde. Offenbar hatte es einen anonymen Hinweis gegeben und das System sah eine Chance gekommen, ein Exempel zu statuieren. Man hatte die Leiche genau untersucht, wobei festgestellt worden war, dass der junge Mann schon tot war, bevor man ihn über den Abgrund befördert hatte. Man fand Verletzungen, die nicht durch den Sturz zustande gekommen sein konnten. Man befragte die Freunde des Burschen, aber niemand sagte etwas. Doch dann der Hinweis. Jemand hatte sich gemeldet, der gesehen haben wollte, wie ein paar Jugendliche einander im Wald verprügelten, am Tag, an dem der Junge zu Tode gekommen war. Er gab zu Protokoll, dass es ein seltsamer Anblick gewesen sei, da es nicht wie ein Streit gewirkt habe, der eskaliert war. Er sagte, dass es ausgemacht, einvernehmlich ausgesehen habe. Daraufhin meldeten sich weitere Menschen, die Ähnliches beobachtet haben wollten. Kleine Gruppen von Jugendlichen, die einander in vollem Einverständnis schlugen. Man machte ein großes Primborium, um die Täter zu überführen, inklusive Hausdurchsuchungen. Man verglich die Schuhabdrücke mit den Schuhen der Freunde des Opfers. Wie die Jugendlichen, es handelte sich offenbar um zwei, ausfindig gemacht worden waren, die nun vor einer riesigen Menschenansammlung exiliert werden sollten, erwähnte Gil nicht. Als wir angekommen waren, nahm er mich an der Hand und zerrte mich durch die Menge hindurch hinter sich her, um weiter vorne etwas sehen zu können. Ich schaute aus Angst nur auf den Boden, um zu verhindern, dass Jurys Gesicht in meinem Blickfeld auftauchte. Doch als Gil abrupt stehen blieb, sah ich doch auf. Juri war keiner der beiden, die dort darauf warteten, exiliert zu werden. Es waren zwei Mädchen. Eines, das ich nicht kannte, das andere war die schöne Anouk. Ich erinnerte mich an die Szene im Wald, als wäre es gestern gewesen. Die Sache, über die Anouk mit Juri hatte sprechen wollen, musste etwas mit diesen Gewaltspielen zu tun gehabt haben. Aber dass er bei so etwas mitgemacht hatte, ausgeschlossen. Ich sah seinen nackten, unversehrten Körper vor meinem geistigen Auge. Nein, Juri ließ sich nicht verprügeln, aber er musste wissen, was vorging. Umso erleichterter war ich, dass es nicht er war, der aus der Siedlung geworfen wurde, sondern die beiden jungen Frauen, auch wenn sie mir leid taten. Sie waren es doch sicherlich auch nicht gewesen, die den Junge zu Tode geprügelt hatten. Keiner, der gekommen war, um die Exilierung zu verfolgen, schien ihnen das zuzutrauen. Das war zumindest der Tenor des Gemurmels der Menge. Vielleicht waren sie es gewesen, die den toten Körper über den Abgrund manövriert hatten, die aufräumen mussten, wie ihre Schuhe es zu beweisen schienen. Dieselben Schuhe, die doch alle trugen, die Dienst an den Grenzen verrichteten, die im Wald, in den Fabriken oder im Kraftwerk arbeiteten. Man hatte den Mädchen sicher einen Tauschhandel angeboten. Ihr Verbleiben in der Siedlung gegen die Namen der Täter und aller, die sich an der Gewaltausübung beteiligt hatten. Aber die jungen Frauen schwiegen, auch jetzt. Zwei Hochverräterinnen, die nichts verraten wollten. Die Menschenmenge wurde still. Die Ansprache eines Vertreters des Systems hatte bereits begonnen. Es drangen nur Fetzen des Gesagten zu mir durch. Der Mann sprach davon, dass die gesetzlose Gewalt an den Grundfesten unserer Gemeinschaft rüttle, dass sich der Zustand der Siedlung die Lebensqualität aller verschlechtern würde, wenn in unserer Mitte radikale Subjekte mutwillig gegen Regeln verstießen, die zur Sicherheit der Gemeinschaft dienten. Weiter, dass die Exilierung dieser zwei Subjekte erst der Anfang eines Kampfes gegen die Aushöhlung unserer Werte sei. Dass sich hier niemand mehr sicher fühlen soll, der nur an die Ausübung von Gewalt dachte. Dann zeigte er auf die beiden Frauen, die als Grenzerinnen im Dienst des Systems standen, als Beweis dafür, dass auch jene vom rechten Weg abkommen konnten, die eben diese Werte schützen sollten Der Systemvertreter winkte zwei uniformierte Altersgenossen der beiden Mädchen herbei, die sie in den Wald begleiten sollten, wo sie über die Grenze zu gehen hatten, in den Tod. Anouk und ihre Kollegin ließen das widerstandslos mit sich geschehen und als sich die Vierergruppe langsam entfernte, sah es so aus, als würden sie einfach nur einen Spaziergang machen. Also der Weg aus der Siedlung ist ein vermeintliches Todesurteil. Es finden eigenartige Vorgänge in dieser Siedlung statt. Die Jugendlichen treffen sich heimlich, um einander zu schlagen. Und sie haben schon richtige Praktiken erarbeitet, um das so auszusehen zu lassen, es sei es keine Schlägerei. Sie verwenden dann gewisse Gegenstände, damit man keinen Fausthieb sieht und so weiter. Aber es kommt eben zu Todesfällen. Nun könnte man ja, Sie haben vorhin gesagt, dass diese identitätspolitischen Fragen eigentlich beim Beginn des Schreibens im Vordergrund standen und diese Siedlung mit diesem oberischen Überwachungs- und Machtapparat sich erst nach und nach formiert hat. Aber man könnte das natürlich auch, diese Gemengelage als Parabel oder als Allegorie lesen, auf das Scheitern einer politischen Utopie, weil natürlich ein Gewaltverbot ist ja an sich nichts Schlechtes, aber logischerweise, aber in dem Fall zeitigt ja dieses Verbot eigentlich ganz verheerende und schlimme Folgen. Ging es auch darum, einfach sich anzuschauen, wie politische Utopien scheitern in so einer Modellsituation? Ich habe die Siedlung nie wirklich als Utopie gedacht, deswegen fällt es mir ein bisschen schwer. Ich habe sie aber auch nicht als Dystopie gedacht. Ich habe sie einfach als nicht als Dystopie gedacht. Ich habe sie einfach als Modell gedacht, was wäre wahrscheinlich, was Menschen tun würden nach einer Krise, von der sie annehmen, dass sie einfach dieses Zu-Viel, diese Verbundenheit, diese globalisierte Welt, dass sie die dort hingebracht hat. Und da schien mir, sich irgendwie abzuschotten und sich in kleinen Einheiten zu organisieren als irgendwie logischen Gedanken. Es ist ja, wie Sie mittlerweile sicher mitbekommen haben, eher ein pessimistischer Roman. Und ich würde halt sagen, Menschen bleiben Menschen. Also egal, wie die Organisations... Also nicht, dass ich damit sagen will, es gäbe... Eine Diktatur ist dasselbe wie eine Demokratie, aber Menschen bauen in jeder Konstellation Scheiße. Und in dem Fall ist dieser Überwachungsapparat ja sehr, er überwacht recht wenig. Also er sorgt ja nicht dafür, dass die Gewalt tatsächlich nicht ausgeführt wird. Also es gibt ja auch diese Stelle, wo es heißt, das System nimmt an, es gibt keine Vergewaltigungen, weil es ja ein Verbot gegen Gewalt gibt, aber natürlich gibt es die. Und diese Entscheidung, da einfach wegzuschauen, ist ja eine, die vielen politischen Systemen irgendwie zugrunde liegt. Man kann eine Regel aufstellen, aber wenn man sie nicht kontrolliert, dann geht es halt schief. Wenn man sie kontrolliert, geht es aber auch schief. Es gibt zum Beispiel auch Abtreibungen in Kellern, was natürlich vor nicht allzu langer Zeit auch in Europa noch so war, wo Frauen eine gute Umstände haben. Und die Ich-Erzählerin erlebt auch so eine Abtreibung bei einem recht eigenartigen Arzt, der das eben illegal vornimmt. Es gibt aber auch einen romantischen Fluchtpunkt in dieser Geschichte, wenngleich es natürlich kein Happy End gibt, denn, Sie haben es schon mitbekommen, es ist ein eher pessimistischer Roman. Und zwar diese Figur Juri, wir haben das in der Textstelle gehört. Sie fürchtet zuerst, dass dieser Juri womöglich ins Exil geschickt wird, was eben in deren Anschauung einem Todesurteil gleichkommt. Und das Interessante ist, dass es ein junger Mann, der an einem ganz besonderen Ort arbeitet, zunächst als quasi sowas wie ein Kustus, weiß ich nicht genau klar, was er macht dort, er kennt sich jedenfalls sehr gut aus und arbeitet im Naturhistorischen Museum. Und das ist aber das einzige Gebäude, der einzige Ort, der noch an die Welt von gestern und das davor, also an die Historie erinnert. Was ist denn das für ein Ort? Es ist, glaube ich, manchmal, es ist ein Ort, der ein bisschen dafür steht, dass politische Systeme manchmal auch die Macht von solchen Orten einfach gar nicht wahrnimmt. Also für das System ist das so ein Ort, na gut, das sind halt ein paar ausgestopfte Tiere, das wird jetzt niemanden irgendwie in Versuchung führen, zu sehr an frühere Dinge anzuschließen, aber es ist eben ein Ort der Erinnerung. Und ich glaube, Orte der Erinnerung, egal, haben halt einfach immer ein wahnsinniges politisches Potenzial auch. Und der Juri ist ja auch eigentlich ein politischer Mensch, der sich für das Draußen interessiert. Er hat zwar auch ein paar krude Theorien, man weiß nicht, ob die stimmen, man weiß ja eigentlich nichts, aber er hat zumindest diesen Drive, mehr wissen zu wollen und insofern finde ich das ganz passend, dass der an diesem zwar heruntergekommenen, aber immer noch existierenden Ort einer Erinnerung arbeitet, die dem System harmlos erscheint, aber die halt doch ein Potenzial hat, eben jemanden zu entflammen zum Nachdenken, ganz einfach. Aber es passt ja natürlich auch zu dieser vermuteten ökologischen Katastrophe, die überhaupt zu diesem Siedlungsbau geführt haben, weil man quasi die Biodiversität von gestern ja sieht in diesem Museum. Es ist ja voll mit ausgestopften Tieren und es gibt so die ersten erotischen Annäherungen, unglaublich vor ausgestopften Waranen. Da wird zum ersten Mal gezüngelt vor denen. Das stimmt. Und ganz am Ende des Romans, was natürlich zeigt, gut, jetzt gerät endgültig alles aus den Fugen, wird dieses Gebäude eigentlich abgerissen. Das heißt, es gibt auch in dieser romantischen Ebene keinen positiven Fluchtpunkt. Oder doch? Weil natürlich auch der Titel, ich weiß nicht, ob wir das verraten sollen, wahrscheinlich lieber nicht, aber es gibt ja auch so eine fantastische Ebene, die sich dann einschleicht. Ja, ja, ich lese noch vom Schweben, also wir können schon verraten, das ist kein Problem. Aber auch da, also die Menschen beginnen zu schweben, diese Welt gerät zunehmend in einen Ausnahmezustand, es beginnen Randale, plötzlich beginnen eben eigenartige Phänomene sich auszubreiten. Zunächst sind es nur Risse am Boden, in einem Schwimmbäckchen, ein Baum, der eigentlich hier gar nicht wachsen sollte. Und dann eben gibt es plötzlich so ein fantastisches Element, die Leute heben ab, im doppelten Wortsinn, also sie beginnen zu schweben. Aber all das, was ja ein Exit-Szenario sein könnte, scheint doch kein positiver Fluchtpunkt zu sein, oder doch? Also ich kann jetzt nichts übers Ende verraten, aber ich kann auch nichts übers Ende verraten, weil sich das auf sehr viele verschiedene Arten lesen lässt. auch nichts über das Ende verraten, weil sich das auf sehr viele verschiedene Arten lesen lässt. Für mich ist es ja kein positives. Viele Leute, mit denen ich über den Titel geredet habe, sehen ja im Schweben eher so eine Leichtigkeit, etwas Positives verbinden mit diesem Titel, auch vielleicht mit dem Aussehen des Buchs eigentlich was Schönes, so eine Art Wunsch. Für mich ist das Schweben etwas Gefährliches, man verliert den Boden unter den Füßen, man verliert den Kontakt zur Realität, zu sich selbst, etwas, was ja quasi die Erzählerin permanent und dauernd tut, auch wenn sie sich am Schluss ja gewissermaßen wiederfindet. Aber so viel kann ich schon sagen, sie entscheidet sich eigentlich gegen sich selbst. Also sie entscheidet sich nicht dafür, ihre Identität anzunehmen, ihre Wiedergefundene, sondern sie entscheidet sich halt dafür. Sie entscheidet sich für was anderes. Für ein Exit-Szenario, genau, weil ganz am Ende erfahren wir auch den echten Namen dieser Ich-Erzähler. Aber diese romantische Beziehung, die Sie angesprochen haben, Juri verkörpert, also Juri ist ja eigentlich die einzige Lichtgestalt in diesem Roman, ist einfach ein wirklich netter Mensch, der dieser Erzählerin ja tatsächlich eine funktionierende Beziehung anbietet, eine Liebe anbietet, aber damit kann sie ja auch nicht umgehen und das lehnt sie ja auch dankend ab. Genau, und mit Fortschreiten des Romans gerät also diese Welt zunehmend aus den Fugen. Es breiten sich Randale aus, die aber eher Chaos sind und keine Revolution gegen die Oberen. Und wir tauchen noch mal ein in diese Welt mit Amira Ben-Saoud. Bitte schön. Genau, also über Juri haben wir ja bereits gesprochen. Los geht's. Ich schrag aus dem Schlaf hoch, war völlig desorientiert. Ich brauchte lange, um zu begreifen, dass das Pochen von draußen kam. Jemand schlug mit der flachen Hand gegen die Haustür. Mimi, rief dieser jemand und ich war sofort hellwach. Ich konnte ihn nicht ignorieren. Er schien zu wissen, dass ich da war und er würde nicht weggehen. Ich hetzte zur Tür, riss sie auf und zog ihn herein. Juri, was machst du hier? zischte ich ihn an. Wir können uns nicht sehen. Du musst sofort wieder gehen. Stattdessen ließ er den Blick langsam durch den Raum schweifen, ging ins Wohnzimmer, setzte sich auf eins der Sofas, sank ein, entschied dann, sich darauf hinzulegen, auf den Rücken. Ich schaute ihn perplex an. Vielleicht war Gil und mir nach der Exilierung gefolgt und wusste deshalb, wo wir wohnten. Vielleicht hatte er es auf einem anderen Weg herausgefunden. Es spielte keine Rolle. Komm, sagte er. Ich dachte, dass ich ihn wohl schneller wieder loswerden würde, wenn ich tat, was er wollte. Also setzte ich mich ihm gegenüber. Er schwieg lange, ein angespanntes Schweigen. Dann schaute er mir in die Augen und sagte nur ein Wort. Bitte. Und alles lag darin. Die Verletzung darüber, dass ich ihn zurückgewiesen hatte, die Enttäuschung und das Mitleid, dass ich lieber bei diesem Mann war, der mich nicht gut behandelte und den ich nicht liebte. Und eine tatsächliche Bitte, die Bitte mit ihm mitzugehen. Mir kamen die Tränen, die ihm die Antwort gaben. Ich würde es nicht tun. Er schluckte, dann liefen auch ihm Tränen über die Wangen. Er starrte an die Decke. Ich dachte, sie schicken dich weg, sagte ich, um irgendetwas zu sagen. Die Exilierung war lange her, aber er wusste, wovon ich sprach. Ich weiß, sagte er. Bist du traurig wegen Anouk? Er antwortete nicht. Hast du mitgemacht bei diesen Gewaltspielen? Fragte ich ihn. Auch darauf antwortete er nicht. Was machst du jetzt, wo das Museum abgerissen wird? versuchte ich es weiter. Sein leises Lachen gab mir zu verstehen, dass er das für eine irrelevante, ja dumme Frage hielt, wie auch die Fragen davor. Ich sah ihn an, den schiefen Juri, wie er da so lag, wie das Zwielicht seinem Gesicht einen erhabenen Rosaton verlieh, sah, wie schön er eigentlich war Er verschränkte die Arme hinter seinem Kopf und schaute mich an Zu weinen hatte er aufgehört, aber die feuchten Rinnsale auf seinen Wangen waren noch sichtbar Weißt du noch, wie wir mal über die Siedlung geredet haben? Die Dinge, die hier vorgehen? Dinge, die unmöglich sind? Weißt du noch, wie ich gesagt habe, dass ich glaube, dass es zu Ende geht? Ich wusste es noch, aber es fühlte sich an, als wäre es in einem anderen Leben gewesen. Aber Juri, gerade ist doch alles, sieh dich in der Siedlung um, es ist doch gerade alles wirklich schön. Es wird immer kurz besser, bevor es ganz schlecht wird, sagte er. Juri, sagte ich ernst, ich musste ihn loswerden, in einer Stunde spätestens würde Gil zurückkommen. Es geht zu Ende, ich kann es dir beweisen, sagte er. Wovon redest du, sagte ich entnervt, ich verlor langsam die Geduld Aber davon ließ er sich nicht beeindrucken Er blieb einfach liegen und heftete seinen Blick wieder an die Decke Zuerst passierte scheinbar gar nichts Doch dann sah ich es Nur noch Juris Hintern lag am Sofa auf, bis auch dieser sich langsam davon abhob, in die Luft. Juri schwebte. Schwebte mindestens zehn Zentimeter über dem Sofa und das Erste, was ich dachte, war, wie schief dieser Bursche sogar in der Schwebe aussah. Ich schrie auf. Sein Körper fiel je ins Sofa zurück, das ihn wie eine Wolke umhüllte. Ich stand auf, starrte ihn an. Dann stand er auch auf. Er legte mir seine Hand auf die Wange und sagte, verbring die letzte Zeit nicht hier, bevor er ging. In den nächsten Tagen verwendete ich alles, was ich an Willenskraft aufbringen konnte, um Gil gegenüber so zu tun, als hätte ich die Welt nicht mit meinen eigenen Augen aus den Fugen geraten gesehen. Ich konzentrierte mich darauf, nicht zu zittern, beim Gehen nicht plötzlich einzuknicken und vor allem nicht loszuschreien. Unter allen Umständen musste ich für mich behalten, dass ich das Unmögliche gesehen hatte. Unter allen Umständen musste ich für mich behalten, dass ich das Unmögliche gesehen hatte. Er würde mir nicht glauben und daraus war ihm nicht einmal ein Vorwurf zu machen. Es war nicht zu glauben. Aber dieses Mal war ich mir sicher, dass es keine Einbildung war. Juri war geschwebt. Ich würde es verdrängen, es auslöschen müssen, sagte ich mir, als wäre das eine Aufgabe, die man so einfach erledigen könnte wie den Wocheneinkauf. Ich würde so leben müssen, als wäre es nicht passiert. Wie es Juri mit dieser bizarren Fähigkeit erging und was er mit ihr machen würde, daran dachte ich nicht einmal. Mir wäre auch gar nicht in den Sinn gekommen, dass Jururies Schweben kein Einzelfall sein könnte. Aber genau eine Woche später, die vielleicht längste Woche meines Lebens, kam Gil ausnahmsweise früher nach Hause. Er riss die Tür auf und sah mich mit einem Blick an, den ich noch nie an einem Menschen gesehen hatte. Und doch spürte ich, dass es genau derselbe war, den ich aufgesetzt hatte, als Juri abgehoben hatte. Du wirst nicht glauben, was passiert ist, jauchzte Gil. Du wirst es nicht glauben, wiederholte er. Aber ich glaubte es schon. Er war wieder mit dem lidierten Wagen gekommen und wir fuhren langsam Richtung Zentrum. Grüppchen von Menschen standen mitten auf den Straßen, jeweils versammelt um eine person die leicht über dem boden schwebte und dann herunter plumpste oder elegant absank offenbar ging es immer nur kurz und unter großer konzentration und man konnte sich maximal ein bis zwei fußbreit nach vorne und hinten bewegen manche taten es aus dem Stehen, andere aus dem Sitzen und andere aus dem Liegen heraus, so wie Juri. Nochmal, nochmal hörte man die Leute rufen. Nur langsam gingen sie zur Seite, wenn sich Gils Wagen näherte. Irgendwann kamen wir gar nicht mehr weiter. Die Leute standen zu dicht beieinander. Also ließen wir den Wagen am Straßenrand stehen und mischten uns unter sie. In den Fetzen der Gespräche, die zu mir drangen, wurde über mögliche Ursachen diskutiert. Ob die Schwerkraft einen Aussetzer haben könnte, ob es Spätfolgen von Krankheiten waren, die jene, die es konnten, als Kinder gehabt hatten. Ob es ansteckend wäre, eine Art Virus, der an sich greifen würde, bis es schließlich alle konnten. Und mancher fragte ganz leise, ob es wohl nur die Menschen in unserer Siedlung könnten oder die in den anderen Siedlungen auch. Das System schickte seine Ordner aus, die die Einwohner wieder in ihre Wohnungen schicken sollten, aber die meisten von ihnen waren selbst so aufgekratzt, dass sie stattdessen mit den Leuten über das Schweben diskutierten. Zuerst war ich noch erleichtert gewesen, dass ich nicht allein war. Alle, dachte ich, würden mit einer völlig neuen Realität zurande kommen müssen. Aber je länger ich auf die Körper in der Luft starrte und wie sie sich in den Augen der Schaulustigen spiegelten, desto banger wurde mir. Niemand schien sich so richtig an der Unmöglichkeit des Schwebens zu stören. Es wurde als willkommene Abwechslung, als eigentümliche, aber unterhaltsame Laune der Natur wahrgenommen. Die Stimmung erinnerte fast an ein Volksfest. Gilbe kam kaum den Mund zu verstaunen. Nun war ich es, die ihn am liebsten packen und schütteln wollte, ihn fragen wollte, ob er wahnsinnig war, ob denn hier alle wahnsinnig geworden waren. Das ist doch nicht normal, wollte ich schreien. Ein paar Tage später ertappte ich ihn dabei, wie er in der Küche stand, sich an der Arbeitsfläche abstützte und sich auf die Zehenspitzen stellte. Er versuchte zu schweben. zu schweben. Es hob mir den Magen aus. Hör sofort auf, rutschte es mir heraus. Er drehte sich erschrocken um, das Lächeln noch auf dem Gesicht. Warum denn, fragte er. Weil man sich nicht mit dem Unmöglichen arrangieren darf, wollte ich sagen. Es waren Jurys Worte, die mir plötzlich präsent waren, weil ich ihren Sinn nun verstand. Ich schwieg. Sein Blick verfinsterte sich. Fang mir bloß nicht wieder so an, ja, sagte er. Er meinte damit, dass ich mich nicht wie Emma benehmen sollte, nicht wie eine Person, die mit der Wirklichkeit nicht zurande kam. Dabei schien ihm völlig egal zu sein, wie unwirklich diese Wirklichkeit war. In ihrem Debütroman Schweden beschreibt Amira Ben-Saud eine geschlossene Gesellschaft am Kipppunkt. Der Text ist im Schollnei Verlag erschienen und ich bedanke mich sehr bei der Autorin für die Lesung und das Gespräch. Vielen Dank. Und damit kommen wir zur zweiten Autorin des heutigen Abends. Ich bitte Paula Lopez auf die Bühne. Ja, Sie haben es eingangs schon gehört, sie ist Mathematikerin und die Gretchenfrage der Gegenwart treibt auch sie in gewisser Weise um, nämlich wie hältst du es mit der künstlichen Intelligenz? Künstliche Intelligenz ist das Thema von Paola Lopez' Dissertation. Sie ist Mitarbeiterin an der Universität Bremen. Und für ihren Debütroman, in dem es wohlgemerkt absolut nicht um künstliche Intelligenz geht, aber durchaus um Formeln, um Mathematik, um die Naturwissenschaften, für ihren Debütroman wurde sie mit dem Theodor-Körner-Preis ausgezeichnet. Ja, die Summe unserer Teile in diesem Roman spannt die Autorin ein großes Panorama auf und zwar geografisch als auch historisch. Wir reisen nach München, nach Beirut, nach Berlin und zur Danziger Bucht, also nach Polen und wir reisen nicht nur an verschiedene Orte, sondern auch wir besuchen verschiedene Zeitebenen. Wir sind in den 40er Jahren in Beirut, wir sind in den 2010er Jahren in Berlin, wir sind in München der 1970er Jahre und, und, und. Das heißt, es ist ein nicht lineares Erzählverfahren, wenn man so will. Drei Frauen stehen im Mittelpunkt, Tochter, Mutter, Enkelin und es geht um das durchwachsene Verhältnis zwischen Müttern und ihren Töchtern. Denn die Großmutter war eine relativ anerkannte Chemikerin in Beirut und hat aber alles ihrem Beruf untergeordnet. Sie war eine besessene, von den Naturwissenschaften wirklich begeisterte Person, die also auch ihrem Kind statt Kinderbücher mit dem Kind zu lesen oder Kinderzeichnungen anzuschauen, quasi sich mit der Teilchenlehre auseinandergesetzt hat, was das Kind natürlich ein bisschen verwirrt hat. Und die Mutter Daria, sie ist Ärztin, sie will es dann besser machen mit ihrer Tochter und auch das gelingt wieder nicht. Das heißt, es geht ein bisschen darum, wie Traumata von einer Generation zur nächsten vererbt und weitergegeben werden. Und es geht auch, vielleicht wie im Vorgängerbuch, wenn gleich die Autorin gemeint hat, es sei keine Utopie, aber es geht ums Scheitern in gewisser Weise auch. Würden Sie dem zustimmen? Ja, also die Frage zwischen Generationen, wie kann man das reparieren, was einem widerfahren ist oder wie kann man das anders machen, was man nicht fortsetzen möchte, ist ja eigentlich ein schöner Gedanke, mit dem man dann eigene Familien auch sehr optimistisch startet, mit schönen Bildern und Wünschen. Und die mittlere in dem Dreier-Frauenbunde, die Daria, hat eben in ihrer Kindheit eine große Distanz erlebt und möchte dann irgendwie so eine Art Gegenteil von Distanz in ihrer Tochterbeziehung erleben. Und das Gegenteil von Distanz wäre ja so eine Art Nähe, aber sie übertreibt das oder sie lädt diese Beziehung derart auf, dass nicht eine Nähe passiert, also sie sieht ihre Tochter nicht als Person, sondern sieht in ihrer Tochter immer nur so eine Vorlage zur Frage, mache ich es gerade gut als Mutter, mache ich es gerade nicht so gut und übersieht dabei diesen kleinen Menschen, den sie da aufzieht. Und er drückt dabei Lucy, die Jüngste von den dreien, mit ihren Vorstellungen und Wünschen, die sich dann losreißt und den Kontakt abbricht. Also es ist eigentlich ein trauriges Scheitern, das aus einer guten, positiven Idee kommt. Also am Ende ist dann eigentlich, also es gibt dann ja eine Annäherung, aber es steht das Scheitern zwischen diesen Personen, das Schweigen. Es gibt Familiengeheimnisse, die lange nicht aufgeklärt werden. Diese Lucy, die 20-jährige Studentin, also die Enkelin, weiß eigentlich gar nicht genau, was mit ihrer Großmutter passiert ist. In dem Leseexemplar, das mir vom Verlag zugesandt wurde, ist vorweg ein Interview abgedruckt. Und da haben sie gesagt, sie hätten sich beim Schreiben auch an einem Satz orientiert des US-amerikanischen Autors Jonathan Lethem, der da lautet, every family is a failed utopia, also jede Familie ist eine gescheiterte Utopie. Und was aber interessant ist und was wirklich sehr clever ist, ich glaube ursprünglich wollten Sie ja von der Ich-Erzählerin Lucy ausgehen, also die ist so 23, studiert Informatik in Berlin, lebt in einer WG, hat jetzt vielleicht im Vergleich zur Mutter und Großmutter eher Luxusprobleme, wenn man es so sagen möchte, denn die Großmutter musste im Zweiten Weltkrieg von Polen nach Beirut fliehen, hat dann dort eine WissenschaftlerInnen-Karriere in einer Zeit aufgebaut, als das ja für Frauen jetzt nicht gang und gäbe war. Die Mutter wiederum kommt nach München in ein Land, wo sie auch die Sprache nicht perfekt spricht, wird dort Medizinerin, auch sie ist mit gewissen Vorbehalten konfrontiert. Der Tochter geht es eigentlich ganz gut, möchte man meinen. Und was sie aber machen und was sehr intelligent ist, sie erzählen jetzt diese Geschichte nicht aus der Perspektive der Tochter, sondern die einzelnen Kapiteln begeben sich in die Perspektive jeweils einer dieser Figuren, sodass man eine gewisse Vielstimmigkeit erlebt. Warum haben sie sich denn entschlossen, das so multiperspektivisch aufzufächern? Eigentlich wollte ich das gar nicht. Eigentlich hatte ich ziemlich Respekt und Angst davor, aus der Perspektive einer Person zu schreiben, die in den 40ern gelebt hat. Wie komme ich zu dieser Stimme? Ich wollte eigentlich das alles aus der mehr oder weniger Gegenwart erzählen und über Erzählungen durch die Mutter dann aufbauen, aber das war unglaublich schwerfällig und hat überhaupt nicht funktioniert. ein Kapitel aus der Großmutterperspektive in den 40ern zu schreiben. Und das hat dann irgendwie doch funktioniert. Und fand ich dann konzeptuell auch irgendwie passend, in diesen drei Stimmen, die dann wirklich strukturell drei Perspektiven geworden sind, die Kapitel springen ziemlich herum, ich hoffe, es ist trotzdem ein stringentes Ganzes, also in diesen drei Stimmen dann auch drei Wahrheiten nebeneinander existieren zu lassen, was ja auch sehr wichtig ist, gerade in Familienkonstellationen, dass nicht eine Person Recht hat, sondern alle drei irgendwie und alle drei irgendwie nicht. Und das hat dann formell gut funktioniert mit den drei Perspektiven, die einfach nebeneinander stehen konnten. Aber das führt natürlich auch dazu, dass nicht linear erzählt wird. Das heißt, wir sind in einem Kapitel 2014 in Berlin, im nächsten dann 1976 in München, dann sind wir 1947 in Beirut. Das heißt, es ist so ein bisschen ein Puzzle, dass sich das nach und nach auch erschließt, und da war seine Intention, auch eine gewisse Spannung dadurch zu erzeugen, weil man überlegt sich ja immer, was ist da jetzt eigentlich los? Es gibt ja auch ein Familiengeheimnis eben rund um die Großmutter. Ja, ein Geheimnis. Das wir nicht verraten. Ja, war das die Intention sozusagen, diese, ja sowas wie Suspense auch zu erzeugen? Bis man mal erfährt, was überhaupt los war mit der Großmutter. Ja. Man will es dann wirklich wissen. Es wird ein Page-Turner. Ja, es war ein bisschen der Wunsch zumindest, dass dann über so kleine Details aus einer ganz anderen Zeitebene sich insgesamt so ein Bild füttert, dass das dann auf so ein Geheimnis hinausläuft, das einen dann hoffentlich interessiert im Laufe des Lesens. Jetzt haben wir eingangs schon gesagt, die künstliche Intelligenz spielt keine Rolle, wenngleich sie diese in ihrem Hauptberuf, oder ich weiß nicht, ob das der Haupt oder der Neben, in ihrem anderen Beruf treibt es ja die künstliche Intelligenz um, aber das ist nämlich auch nicht so oft in der Literatur der Fall, muss man sagen. Alle drei Hauptfiguren sind Naturwissenschaftlerinnen oder beschäftigen sich mit sogenannten positiven Wissenschaften. Die Großmutter ist Chemikerin, ihr Vorbild ist Marie Curie natürlich, weil die war ja auch Polin, die Großmutter war auch Polin. Also eine Besessene geradezu, die also ihrem Kind, ihrem Kleinkind das noch nicht lesen kann, wenn es ein Grashalm in der Hand hat, erklärt, nein, aber in Wahrheit gibt es ja ganz viele Teilchen und Elektronen und Neutronen. Und das Kind wird völlig, ja, ist verwirrt natürlich. Die Mutter ist dann Ärztin, das wird dann von der Chemikerin schon etwas despektierlich betrachtet, aber es geht noch so halbwegs und die Enkelin ist eben Informatikerin. Und das Interessante ist, es wird auch darüber gesprochen, inwiefern es zwischen der Sprache, also der Literatur und der Mathematik und dem Formelhaften einen Zusammenhang gibt. Und die Konklusion ist, ja, es gibt einen, nämlich welchen. In der Mathematik, also die eigentlich meine Ursprungsdisziplin ist, in der ich auch viel gearbeitet habe und arbeite, geht es eigentlich gar nicht so viel um Zahlen, sondern eher um Objekte und um Verhältnisse und um Aussagen und Eigenschaften und auch diese Formelausdrücke, die dann alle Leute sehr erfolgreich verjagen von der Mathematik, sind eigentlich nur Abkürzungen für Wörter und für Sätze und für Objekte und so weiter. Und es geht eigentlich sehr stark darum, präzise Formulierungen für etwas oder für Eigenschaften und Verhältnisse zu finden und diese sprachliche Präzision, die in der Mathematik sein muss und dann abgekürzt wird durch Formeln, die hat mich auch in der Literatur immer sehr interessiert und mein Lieblingswitz handelt auch von Sprache und Präzision und Mathematik, den würde ich jetzt kurz erzählen. Bitte. Eine Ingenieurin, eine Physikerin und eine Mathematikerin fahren mit dem Bus durch Schottland und fahren in einem schwarzen Schaf vorbei. Und die Ingenieurin sagt, oh, in Schottland sind die Schafe wohl schwarz. Die Physikerin wird wütend und sagt, nein, das kannst du so nicht sagen. Du kannst nur sagen, in Schottland gibt es ein schwarzes Schaf, wir sehen hier nur eins. Und die Mathematikerin flippt natürlich komplett aus in ihrer Präzision und sagt, nein, nein, das Einzige, was wir sagen können, ist, es gibt mindestens ein Schaf, das auf mindestens einer Seite schwarz ist. ist, es gibt mindestens einen Schaf, das auf mindestens einer Seite schwarz ist. Und ich liebe dieses mindestens eine Schaf, das auf mindestens einer Seite schwarz ist. Und genau in dieser Präzision bin ich sozusagen disziplinär aufgewachsen. Und das mag ich sehr. Aber Ihre Eltern, habe ich gelesen, waren eigentlich Konzertpianisten. Ja. Das frage ich deshalb, weil nämlich ein Klavier als Symbol eine bedeutende Rolle spielt in diesem Roman. Es ist eher, wie soll ich sagen, für die Erzählerin, also Lucy, ein Minitekel des Furchtbaren. Hat das autobiografische Hintergründe oder welche Rolle spielt dieser Flügel? Also der Hintergrund ist folgender, sie kommt eines Tages nach Hause in die WG und plötzlich ist da ein Flügel. Damit beginnt der Roman mit einem riesigen schwarzen Steinway, den ihre Mutter ihr geschickt hat und überraschend, mit einem riesigen schwarzen Steinway, den ihre Mutter ihr geschickt hat. Und überraschend, nicht konsensuell, ist da plötzlich ein riesiger Flügel, der alles andere verdrängt. Und das ist eigentlich recht spannend beim Schreiben immer wieder. Das war das allererste Bild von dem ganzen Roman. Dieses Klavier, das plötzlich in einem WG-Zimmer steht und da irgendwie komplett fehl am Platz ist und nicht reinpasst in mehreren Hinsichten und das finde ich auch beim Schreiben so spannend, dass eigentlich hat man ja vollste Kontrolle über alles. Also ich schreibe ja jedes Wort, man kann ja jedes Wort bestimmen, das da steht, aber andererseits gibt es dann wieder so hartnäckige Bilder, die kommen und sich irgendwie nicht vertreiben lassen. Und in meiner Kindheit gab es auch einen großen Konzertflügel im Wohnzimmer, aber der war eigentlich total nett. Also wir wurden nie gezwungen, Klavier zu spielen und es war eigentlich eher so ein schönes Erlebnis, als kleines Kind mit so sehr kleinen, dünnen Fingern einen riesen Ton produzieren zu können, indem man da einfach nur so drauf drückt. Und irgendwie war dieses Klavier plötzlich sehr präsent bei mir und ich habe das dann zu so einem Schreckenssymbol gemacht, weil der ja auch gruselig sein kann, aber für mich nicht wahr. Dann schlage ich vor, wir kommen jetzt mit Lucy nach Hause und werden von der Mutter, zu der sie eigentlich den Kontakt abgebrochen hat, überrascht. Genau, der Kontext ist, also es ist der Anfang des Romans. Lucy hat drei Jahre zuvor den Kontakt zu ihren Eltern abgebrochen, weil sie zu überbordend waren, weil die Beziehung für sie einfach zu schwierig war. Sie ist nach Berlin gezogen, hat ihnen nicht Bescheid gesagt, ursprünglich aus München. Und einmal kommt sie nach Hause. Berlin, 2014. Nur noch ein Tag, denkt Lucy. Die Vorfreude lässt sie trotz der Hitze die vier Stockwerke mit Leichtigkeit nehmen. Das Semester ist so gut wie vorbei. Danach kommt erstmal nichts. Kein Praktikum, kein Projektseminar. Lucy und Phil müssen nur ein Spiel programmieren. Das wird eine Menge Arbeit. Sie haben noch nicht einmal ein Konzept, aber die Abgabe ist erst im Oktober, also kein Problem, ein Job für die ferne Zukunfts-Lucy. Lucy überspringt die wackelige Treppenstufe im zweiten Stock so schwungvoll wie Super Mario die gegnerischen Schildkröten. Morgen, direkt nach dem letzten Seminar, fährt sie mit Phil an den Thonsee, den ersten See auf Phils Liste mit Berliner Seen, die Lucy ihrer Ansicht nach unbedingt kennen muss. Auf jeden Fall kann sie dort ignorieren, dass Berlin immer heißer und heißer werden und sich in den nächsten Jahrzehnten in eine tropische Betonhölle verwandeln wird. Die Sommerhitze der letzten Wochen hat sich wie flüssiger Estrich in Lucys Hirnwindungen abgesetzt. Jeder frische Gedanke wird blockiert. Sie kann es kaum erwarten, in kaltes Wasser zu tauchen und ihr Hirn durchzuspülen. Sie stellt sich dieses Gehirn hellrosa und glänzend vor, während sie die Wohnungstür aufsperrt, obwohl sie seit ihrer frühen Kindheit weiß, dass es in Wahrheit genauso grau ist wie der Sommerestrich in ihrem Kopf. Nie hat Lucys Mutter ihr anatomische Ungenauigkeiten durchgehen lassen. Gehirne sind nicht rosa, es gibt keinen Hüftknochen und ein Uterus ist bedeutend kleiner, als man denkt. Leer passt er fast auf eine Handfläche. Lucy versetzt der Wohnungstür einen leichten Tritt und wirft ihren Schlüssel in das Festplattengehäuse, das sie mit ihrem Mitbewohner Oliver letzten Sommer zu einer übergroßen Schlüsselschale umfunktioniert hat. Sommer bedeutet, Zeit für solche Projekte zu haben, auch wenn sie am Ende aussehen wie Sperrmüll. Sie öffnet die Tür zu ihrem Zimmer und hält mitten in der Bewegung inne. Es dauert einen Augenblick, bis sie versteht, was sie da sieht. Ihr Schreibtisch wurde zur Seite geschoben, ebenso ihr Lesesessel und der Stuhl, auf den sie ihre getragene Kleidung wirft. Mitten im Raum steht ein gigantischer, schwarzer Konzertflügel. Ein Steinway, auf dessen glänzender Oberfläche sich das Altbaufenster in voller Höhe spiegelt. Als wäre sie im falschen Film oder vielmehr hinter der Filmkulisse, in einem Lager mit nachlässig verstauten Requisiten, die einmal ihre Möbel gewesen sind. Sie tritt an das Klavier heran, öffnet vorsichtig die Abdeckung der Klaviatur und schließt sie sofort wieder. Ihre Hand hinterlässt einen feuchten Abdruck auf der Oberfläche. Sie schluckt, aber ihre Kehle ist trocken. Auf dem Flügel liegt eine ausgedruckte Notiz des Transportdienstleisters. Nachricht an den, die Empfängerin, Lucy Wittenberg. Nichts zu danken, endlich weiß ich, wo du wohnst. Oliver, ruft Lucy. Oliver. Oliver kommt ins Zimmer, geschlendert auf seinem Gesicht, ein Lächeln, das sofort verschwindet, als er Lucy sieht. Spinnst du? fragt Lucy. Warum hast du das zugelassen? Ihr Zimmer dreht sich. Was meinst du? Du hast einfach die Tür geöffnet und diesen Flügel in mein Zimmer schleppen lassen? Klar, Leute, kein Problem, einfach hier abstellen, erfft sie ihm nach. Ich dachte, das ist eine von deinen extravaganten Anschaffungen, erklärt Oliver. Ein Steinway? Oliver zuckt hilflos mit den Schultern. Ich habe versucht, dich anzurufen. Ich hatte Klausur, sagt Lucy. Oliver öffnet den Mund, sagt aber nichts. Lucy atmet vier Sekunden lang ein, sechs Sekunden lang aus. Panikprävention, aber für Prävention ist es längst zu spät. Das ist mein altes Klavier. Vier Sekunden ein, sechs Sekunden aus. Meine Mutter hat es mir geschickt. Was? Aber, setzt Oliver an und verstummt gleich wieder. Lucy schiebt sich an ihm vorbei in den Flur. Sie geht in sein Zimmer und schließt die Tür hinter sich. Ein Zimmer, in dem kein Klavier steht. Oliver sagt etwas hinter der Tür. Sie versteht es nicht, sie will es auch nicht verstehen. Sie setzt sich auf den Boden, Beine angewinkelt, Arme um die Schienbeine, Stirn auf die Knie. Lucy denkt an das Licht in der Wohnung ihrer Eltern, in der Falmer-Reier-Straße in München, an die Klaviatur des Flügels, an der sie die Jahreszeiten ablesen konnte. Zu Jahresbeginn wurde am frühen Nachmittag die ganze Klaviatur von der niedrigstehenden Sonne beschienen und Lucys Finger warfen langgezogene krallenartige Schatten auf die Tasten. Gegen Frühling lagen noch drei Viertel der Tasten im Sonnenlicht, im Frühsommer die Hälfte und im Sommer nur noch die vier Tasten bis zum ersten C. Lucys Krallen verschwanden. Das Licht wanderte und Lucy saß am Klavier, sah dem Licht zu und musste üben und üben und üben. Sie denkt an ihre geduldige Klavierlehrerin Monika, die nur dann einen strengen Blick aufsetzte, wenn Lucys Mutter den Raum betrat. Winter, Frühling, Sommer, Herbst, alles änderte sich, nur das Klavier blieb immer dasselbe. Warum das Klavier? Warum jetzt? Das Warum fällt ins Leere und schwillt an und wird größer und größer. Es frisst den alten Orientteppich, das graue Sofa, Olivers Mischpult und den Plattenspieler. Es will Lucy verschlingen. Vier Sekunden ein, sechs Sekunden aus, in ihren Ohren ein lautes Pfeifen. Ihre Gedanken überhitzen sich wie ein Thinkpad aus den 90ern. Die Lüftung dröhnt, das Silizium heizt sich auf, neuer Input unmöglich, alle Denkprozesse stagnieren. Als hätte Lucy tausend Tabs geöffnet, bloß sind es nicht tausend verschiedene, sondern tausendmal derselbe. Das Klavier, das Klavier, das Klavier. Olivers Stimme aus dem Flur, hat er die ganze Zeit schon zu ihr gesprochen? Lucy schließt die Augen, neuer Input unmöglich. Tja, das Klavier ist ein Minitekel, es löst aber einiges aus in dieser Lucy, denn sie begibt sich auf eine Reise, die im Endeffekt so eine genealogische Expedition ist. Wir wissen ja, sie weiß sehr wenig über ihre Großmutter. Es wurde ihr erzählt, dass die Großmutter starb, als sie ein Kleinkind gewesen ist. Das erweist sich dann später als Lüge, so viel dürfen wir verraten. Und sie heftet sich auf ihre Spuren. Diese Frau hat im Zweiten Weltkrieg Polen verlassen, ist nach Beirut geflohen. Und bereits früher in ihrem Leben ist sie als Zwölfjährige, das zeigt vielleicht so diese besonderen Charaktereigenschaften dieser Frau, die in den 1940er Jahren eine Karriere als Chemikerin an der Universität angestrebt hat, da sie bereits als Zwölfjährige Reis ausnahm von ihrer Familie und sie floh an die Danziger Bucht. Und dorthin begibt sich auch Lucy. Erstens, was findet sie dort? Und zweitens, dieser Roman umspannt ja eben viele Epochen oder Jahrzehnte und auch viele Orte, eben Beirut, München, Berlin, die Danziger Bucht. Haben Sie diese Orte alle bereist oder wie sind Sie da in der Recherche vorgegangen? Die Großmutter-Ebene, also die Frau, die aus Polen kommt, mit 18 nach Beirut flieht und dort ihr Leben lebt, die ist tatsächlich, also das meiste, was ihr widerfahren ist, kommt aus der Geschichte meiner Großmutter, was dann immer, also das haben wir im Verlag auch überlegt irgendwie, wie wir das mit meiner Autorinnen-innenbiografie machen, wenn also so ein Name wie Paola Lopez, erzählt ja so eine Lateinamerika-Geschichte und dann schreibt diese Paola Lopez so ein Buch über Polen und Libanon. Aber genau, also mein Vater kommt ursprünglich aus Mexiko und meine Mutter ist tatsächlich im Libanon geboren, Tochter einer Polin und eines Libanesen und dann in den 70er nach Wien gekommen. Also habe ich sehr viel über Geschichten tatsächlich von ihr erfahren und das war auch ein sehr schöner Aspekt des Schreibens, weil man von eigenen Familien oder von vergangenen Generationen vielleicht so diese großen Dinge erfährt. Wer war wann wo, hat was wie gemacht, ist wo gelandet. Aber so diese kleinen Details, die man braucht, um einen guten Roman zu schreiben, die sind zu mir gekommen über ganz viele Gespräche mit meiner Mutter. Und ich habe jetzt auch auf dem Telefon einen Ordner mit sehr vielen Sprachnachrichten, wo sie mir erzählt, wie es damals in Beirut war, in den 50ern und 60ern. Und das war irgendwie so ein sehr netter Nebeneffekt, der sich aus diesem Recherche-Pragmatismus ergeben hat. Und an dem Ort in der Danziger Bucht war ich sehr oft und den mag ich auch sehr gern. Also polnische Ostsee kann ich sehr empfehlen. Also es geht in gewisser Weise um diese globalen Lebensläufe und Migrationsgeschichten auch, was ja auch interessant ist. zur Kenntlichkeit verzerrt haben, wie man das eben in der Literatur macht, also keine Autofiktion, die ganz offen sozusagen das Biografische und vermeintlich Authentische zum Thema macht, sondern eine literarische Verdichtung von Familien- und Lebensgeschichte. Und was interessant ist bei diesen Migrationsgeschichten ist, und das ist auch hier ein Thema, ist der Sprachwechsel. Und was passiert beim Sprachwechsel? Denn die Großmutter kommt eben aus Polen, lebt dann eben in Beirut und sie forscht an der Uni und musste also auf Englisch publizieren. Das fällt ja auch am Anfang ganz schwer. Und sie hat dann so ein richtiges Register sich angelegt mit verschiedenen formelhaften Ausdrücken, die sie dann in diesen Publikationen verwenden kann. Die Mutter wiederum, also Daria, die Medizinerin, die wird in den 70er Jahren, wir werden das gleich von ihr mehr erfahren, nach München geschickt, weil es während der Zeit des Bürgerkriegs also die nächste Generation ins Ausland geschickt wird, um zu studieren. Und sie muss dann wiederum sich mit einer neuen Sprache, mit dem Deutschen herumschlagen. Und die Enkelin wiederum spricht die Sprachen ja ihrer Großmutter und Mutter gar nicht. Welche Rolle spielt denn dieses Problem des Schweigens vielleicht oder der sprachlichen Verständigung, dieses Wechsels der Sprachen? Ich habe da sehr viel darüber nachgedacht und irgendwie komme ich da nicht auf ein Denkbild, das abschließend ist. Also einerseits ist Sprache wahnsinnig wichtig für ein Verkbild, das abschließend ist. Also einerseits ist Sprache wahnsinnig wichtig für ein Verständnis, auch zwischen Generationen. Und andererseits kann es das ja irgendwie auch nicht sein, also das mit einem Sprachwechsel, dass dann das Verständnis verloren geht. Beziehungsweise kann es auch oft sein, dass sich zwischen vielen Wörtern auch Dinge verstecken können. Viel eher als eine gemeinsame Sprache braucht es wahrscheinlich die Bereitschaft, das Gegenüber als Person zu sehen und zu versuchen, das, was von der Person kommt, zu hören oder zu verstehen, wenn man zumindest eine gemeinsame Sprache so ein bisschen hat. zu verstehen, wenn man zumindest eine gemeinsame Sprache so ein bisschen hat. Und ein großes Thema in dem Roman oder was eigentlich so der Ursprung vieler Probleme ist, ist eben nicht diese Bereitschaft, offen zu sein, sondern ein Schweigen. Und mich hat Schweigen vielleicht auch deswegen sehr interessiert, weil in meiner Familie überhaupt nicht geschwiegen wird. Da wird die ganze Zeit geredet über Gefühle und alles. Deswegen fand ich Schweigen irgendwie mystisch und interessant. Aber auch eben ja zwischen vielen Wörtern, die dann ausgesprochen werden, können sich auch Dinge verstecken. Und das ist dann vielleicht der nächste Roman, mal sehen. Also das ist ja ein Mehrgenerationen-Roman, eben über drei Generationen erzählt. Jetzt kennt man das natürlich in der literarischen Praxis, aber es sind tatsächlich, wenn man so in die Literaturgeschichte schaut, sehr oft natürlich die Vater-Sohn-Beziehungen, die im Fokus sind. Es gibt ja auch diesen Begriff der symbolische Vatermord, das heißt, in der künstlerischen Praxis, man muss sich von den Vätern, von denen, die davor kamen, abgrenzen, um etwas Neues zu schaffen. Und Sie arbeiten sich also an diesen Beziehungen der Frauen ab, die vielleicht jetzt nicht ganz so präsent waren in der Literaturgeschichte. Ich vermute, das ist eine bewusste Entscheidung. Ja, und das ist auch eine Rückmeldung, die mich immer wieder so ein bisschen überrascht hat, wenn dann die Frage kommt, aber wo sind die Männer, was ist mit den Männern? Ja, die gibt es dann in anderen Büchern, es ist so, wie wenn man fragt, Mathematikum, hast du nicht Biologie studiert? Ja, habe ich halt nicht. Man macht halt diese eine Sache, die man macht. Ja, das schien mir irgendwie näher und auch dringlich auf eine gewisse Weise über Mütter und Töchter zu schreiben. Ja, und die Männer tatsächlich sind ein bisschen Randfiguren. Es gibt ja sowohl den Großvater und auch den Vater, aber die sind sehr farblos. Also zumindest so, wie sie beschrieben werden. Ja, okay. Es sind so Rand wie sie beschrieben werden. Oh, okay. Es sind schon Randfiguren ihr, nicht? Ja, dann am Ende haben sie... Am Ende, genau, der Großvater, der Großvater, genau, das verraten wir jetzt aber nicht. Die haben dann doch Punkte, wo sie agieren. Gut, dann schlage ich vor, wir lernen die Mutter kennen, Daria. Sie kommt in den 1970er Jahren nach München, um Medizin zu studieren. Bitteschön. Das ist aus Kapitel 2, das heißt, das ist das erste Kapitel aus Sicht der Mittleren, der Daria. München 1976. Daria nimmt ihre Schutzbrille ab und wischt sich den Schweiß vom Nasenrücken. Es ist ihr erster Sommer in München 1976. Daria nimmt ihre Schutzbrille ab und wischt sich den Schweiß vom Nasenrücken. Es ist ihr erster Sommer in München. Sie blickt zu Renate, die ihre Frisur richtet und dafür die Klinge des breiten Skalbells als Spiegel benutzt. Zwischen ihnen die große Rinderlunge. Als der Professor den Tisch rein den Rücken zukehrt, um die Tafel zu wischen, verdreht Daria die Augen. Es ist unerträglich, flüstert sie. Solltest du so eine Hitze nicht gewohnt sein, fragt Renate erstaunt. Daria drückt das Gefühl von Heimweh, das in ihre Brust anschwillt, hinunter in den Bauch. In den meterlangen Dünndarm muss sie es hineinflechten, bis es still ist und sich umwickelt von Darias innerer Boa Constrictor nicht mehr regt. Sie blickt aus dem Fenster. Die Sonne hinter den Lamellen der Außenjalousien sieht harmlos aus, eine kleine weißlich-gelbe Murmel. Der längliche Saal wird durch kaltes Luftröhrenlicht erhellt, das oft genug flackert, um in Daria einen leisen Kopfschmerz anzustoßen. Seit Renate und Harald miteinander ausgehen, hüllt sich Renate zudem täglich in eine Wolke von blumigem Parfum, das Daria fast schmecken kann, wenn sie nebeneinander an der Rinderlunge arbeiten Die Regale an der Seite des Saales sind voll mit Geräten, die veraltet aussehen, Schläuche aus getrübtem Kunststoff Wie viele Generationen von Studenten haben hier schon geschwitzt? In ihren Schutzkitteln sehen Darius Studienkollegen von hinten aus wie Geister, kopflos und konzentriert. Als würden sie etwas Wichtiges tun und nicht in toten Organen herumstochern. Dieses Präparieren ist vollständig unproduktiv. Sie schreiben nicht etwa eine Hausarbeit oder lösen eine Aufgabe oder ein Problem. Sie erschaffen nichts. Sie führen keine Experimente durch, testen keine Hypothesen. Alles, was man durch dieses Durchtrennen von Daria's Magen knurrt. wie es im Inneren so aussieht, um zu üben, das Innere freizulegen, zu zergliedern. Wie oft sollen sie das noch machen? Darias Magen knurrt. Sie zieht die lange Metallpinzette aus der Luftröhre und kramt nach einem schmalen Skalpell. Du hättest doch Nachschlag nehmen sollen, sagt Renate. Oder haben dir die Knödel nicht geschmeckt? Das ist okay, mir kannst du es sagen. Daria errötet. Nein, nein, sie waren köstlich. Zum Mittag war sie bei Renate und ihren Eltern eingeladen. Renates Mutter hat Germknödel mit Vanillesoße gekocht, wunderbar flaumig, eines von Darias Lieblingsgerichten aus der bayerischen Küche. Gefällt es Ihnen denn hier, hat Renates Vater gefragt, während Renates Mutter die Knödel servierte. Ja, München ist wunderbar, hat Daria geantwortet. Sobald sie sich bemüht, glücklich zu wirken, klingen ihre Worte hohl, ihre Stimmbänder werden nasse Stofffetzen. Nachdem alle ihre zwei Knödel verspeist haben, hat Renates Mutter Daria Nachschlag angeboten. Daria hätte in den Knödeln baden können. vielen Dank, ich bin schon sehr satt, sagte sie, um nicht gierig zu wirken, sie war immerhin zu Gast. Zu ihrem Entsetzen hat Renates Mutter nicht weiter insistiert und keinen Versuch unternommen, ihr die Knödel aufzudrängen. Sie hat nicht etwa gesagt, machen Sie mir doch die Freude und nehmen Sie noch einen Knödel, nur einen kleinen, wie Libanesen es tun würden. Nach einem kurzen Moment der Irritation hat Renates Mutter die weiteren Knödel auf die Dreitäler der Familienmitglieder aufgeteilt. Das Tor zu den traumhaften Knödeln wurde geschlossen und Daria hat still und mit sehr geradem Rücken zugesehen, wie Renate, Renates Mutter und Renates Vater ihre zweite Portion verspeist haben. 100 Knödel hätten das brennende Gefühl der Einsamkeit nicht stillen können. Daria spannt ihre Bauchmuskeln an, damit ihr Magen aufhört zu rumoren. Im Grunde sind sie immer angespannt. Seit sie hier ist, hatte sie kaum Gelegenheiten loszulassen. Im englischen Garten kann sie manchmal durchatmen, beim Monopteros mit der schönen Aussicht lockert die Boa Constrictor ihren Griff. Stundenlang sitzt Daria auf dem Hügel. Die Hippies stören sie nicht, im Gegenteil. Zwischen den Künstlern und den Langhaarigen kann sie verschwinden. Sie kann ungestört alles beobachten, während die anderen um sie herum haschisch rauchen. Renate war entsetzt, als Daria ihr erzählt hat, dass sie dort gerne Zeit verbringt. Sind dort nicht alle nackt? hat Renate gefragt. Das machen sie anscheinend seit Jahren nicht mehr, hat Daria beschwichtigt. Aber seither behält sie ihren Lieblingsplatz für sich. Das machen sie anscheinend seit Jahren nicht mehr, hat Daria beschwichtigt, aber seither behält sie ihren Lieblingsplatz für sich. Als der Professor den Raum verlässt, fangen die fünf angehenden Chirurgen ganz vorne im Saal an zu scherzen und werden immer lauter. Sie machen einen Sport daraus, im Präparierkurs möglichst nonchalant sämtliche tierischen und menschlichen Körper und Körperteile mit Metallklemmen auseinanderzuspreizen, alles, was auf den Zweiertischen vor ihnen liegt. Als wären es nicht einst Lebewesen, sondern Dinge gewesen. Daria beobachtet die Männer seit Semesterbeginn. So faszinierend und ekelhaft, tote Körper und Körperteile sind so faszinierend und ekelhaft, sind die rabiaten Handgriffe der Chirurgiekandidaten, die in ihnen herumwühlen. In Organen zwischen Rippen, die unter dem Druck ihre Hände fast zu bersten scheinen. Manchmal kann Daria kaum hinsehen. Diese Chirurgen sind bestimmt grauenhafte Liebhaber. Jetzt veranstalten sie ein Puppentheater mit den Lungenlappen und lachen laut. Alle anderen im Saal blicken zur Seite oder tun so, als wären sie sehr vertieft in ihre Arbeit. Daria setzt ihre Schutzbrille ab, verlässt den Tisch und geht ganz nach vorne. Beinahe stößt sie dabei das Skelett um, das immer an den unpassendsten Stellen positioniert ist. Ständig schieben Darias Studienkollegen einander das Skelett zu. Wann immer man sich umdreht, steht es plötzlich vor einem. Was für ein Mensch es wohl einmal gewesen ist? Es war jedenfalls ein Mann, die Pelvis ist eindeutig. Kein Babykopf könnte sich dahin durchzwängen. Welche Umstände mögen dazu geführt haben, dass dieser Mann ein Demonstrationsobjekt geworden ist, mit schmalen Metallschlaufen, die seine Knochen in Form halten, für immer entblößt und anonym? Werdet ihr auch dann noch dumme Witze machen, wenn ihr einen lebenden Menschen operiert? Sofort legen die Chirurgen die langen Metallzangen mit den Gewebeteilen ab und verstummen. Ich hoffe doch, sagt Gerhard schließlich, wie sollen wir es sonst über uns bringen, Menschen aufzuschneiden, Kinder aufzuschneiden. Was für ein Unsinn, sagt Daria. Die fünf Männer sind mindestens einen Kopf größer als sie. Sie streckt ihre Wirbelsäule durch. Ausgerechnet heute hat sie ihre flachen Schuhe angezogen. Will sie die Kollegen zurechtweisen oder von ihnen für attraktiv befunden werden? Sie schiebt den Gedanken beiseite. Patienten brauchen von uns keine Ehrfurcht, sie brauchen fachmännische Operationen, entgegnet Gerhard und die anderen nicken mit ernster Miene. Ihr hattet noch keinen einzigen Patienten und wisst jetzt schon, dass eure Patienten dumme Witze brauchen? Humor ist unsere Art, damit fertig zu werden, dass unsere Arbeit enorm wichtig sein wird, dass unsere Tagesform über Leben und Tod entscheiden kann. Es braucht nur einen falschen Handgriff. Wenn uns das ständig bewusst ist, dann können wir vor lauter Skrupel niemanden anfassen. Als Gerhard anfassen sagt, wirft Adaria einen bedeutungsvollen Blick zu, der dieser Situation nicht angemessen ist. »Man kann auch mit angemessener Ehrfurcht eine fachgerechte Operation durchführen«, insistiert Daria. Sie spricht mit fester Stimme, um Gerhards Blick abzuwehren. Wenn ihre Stimme glatt ist wie die Klinge eines Skalpells, dann prallen Blicke dieser Art an ihr ab. Seinem betonten »Anfassen« hält sie betonte »Ehrfurcht« entgegen. ihr ab. Seinem betonten Anfassen hält sie betonte Ehrfurcht entgegen. Ihr seid alle zufällig der gleichen Meinung wie Gerhard, fragt sie. Die Männer nicken und sehen für einen Moment aus wie kleine Jungen. Jungen von 1,90 Metern Größe mit vollen Haaren und spitzen Zangen in den Händen. Wie kann es sein, dass alle fünf die gleichen sehr großen, sehr weißen Zähne haben. Verblichende Dominosteine ohne Punkte, Elfenbeinquader. Der Professor betritt wieder den Saal und Daria geht zurück an ihren Tisch. Ihre Protokolle liegen bitte bis morgen Mittag in meinem Postfach. Ein leises Raunen geht durch den Saal. Der Professor verteilt Klemmbretter mit Protokollvorlagen und bleibt bei Darias und Renates Tisch stehen. Saubere Arbeit, Fräulein Wagner. Danke, sagt Renate und er rötet. Bei Ihnen auch, Fräulein Hadert. Daria bedankt sich. Wenn er ihren Nachnamen sagt, klingt es wie Hadert. Daria Hadert. Die Chirurgen werfen Daria Blicke zu, die sie nicht deuten kann. Sie ist müde. Wie hat ihre Mutter es geschafft, ganz allein in Beirut zu studieren? Woher nahm sie ihre Entschlossenheit? Ihre Mutter ist vor dem Krieg geflohen, durch den polnischen Schnee, in Zügen, auf Schiffen. Sie war in der Fremde, in ständiger Gefahr. Daria hingegen ist mit dem Flugzeug und einem Studentenvisum nach Deutschland gekommen. Ihr Reisepass in einem neuen, schicken Lederetui. Das Zimmer zur Untermiete bei Freunden ihrer Eltern wurde für sie vorbereitet, wie alles andere auch. Und dennoch. Dieses Leben fällt ihr schwer. Sie kann hundertmal durch den englischen Garten spazieren und obwohl er wunderschön ist, macht er nichts besser. In München gibt es kein Meer. Hier wird es auch heiß, doch die Hitze ist eine andere, keine mediterrane, es fehlt die Meeresbrise. Die Sonne ist eine andere, keine mediterrane, es fehlt die Meeresbrise, die Sonne ist eine andere. Die Münchner Sonne ist eine lange Nadel, die ohne Vorwarnung zusticht. In Beirut ist die Sonne ein Teil der Stadt, sie ist immer da, weich und vorhersehbar. Sie gibt Acht, so wie alle Menschen in Beirut aufeinander Acht geben, launisch und umsichtig. In Deutschland muss sich jeder alleine durchschlagen, man geht durch die Stadt und tut so, als gäbe es keine anderen Menschen. Als wären nicht alle zu jedem Zeitpunkt davon abhängig, dass alle anderen ihren Teil zum Funktionieren des großen Organismus der Stadt beitragen. Während ihrer ersten Woche in München wäre Daria einmal fast überfahren worden. Sie überquerte Gedanken, verlor die Straße und ein vor links kommendes Auto streifte ihren Mantel. Der Fahrer hielt an und beschimpfte Daria mit rotem Kopf. Sie entschuldigte sich. Erst Stunden später hörte sie auf zu zittern. In Beirut kann man zu jedem Zeitpunkt die Straße betreten und überrascht damit niemanden. Jeder erwartet, dass andere Menschen einem in die Quere kommen. Brechreiz breitet sich in Darias Kehle aus. Die Rinderlunge auf ihrem Tisch riecht übel. Es ist kein starker Brechreiz,itet sich in Darias' Kehle aus. Die Rinderlunge auf ihrem Tisch riecht übel. Es ist kein starker Brechreiz, bloß ein zartes Flattern im Kehlkopf. Als hätte sie einen Kolibri verschluckt, der sich halbherzig wehrt. Sie wendet sich von der Lunge ab. Mittlerweile ist sie gut darin, Brechreiz zu unterdrücken. Das gehört zum Leben als Medizinstudentin, zum Leben als zukünftige Kinderärztin. Sie schließt ihre Augen und stellt sich vor, sie schwämme im kühlen Meer, umgeben von sterilem, flüssigem Salz. Als sie die Augen öffnet, fällt ihr Blick auf ihren Studienkollegen Robert am Nebentisch, der einen abgetrennten Lungenlappen sanft in eine Metallschüssel legt. Dabei benutzt er beide Hände, als wäre dieser Lungenlappen etwas besonders Kostbares. Ein frisch geschlüpftes Küken. Robert ist versunken in seinen behutsamen Handgriffe und scheint um sich herum nichts wahrzunehmen. Schweißperlen sammeln sich an seiner Schläfe. Seine Haare sind etwas zu lang, ein kleines bisschen unordentlich. Daria kann ihren Blick nicht von ihm abwenden. Der Kurs nähert sich dem Ende. Daria lässt sich Zeit beim Sortieren der Utensilien, da auch Robert besonders langsam hantiert. Als der Saal fast leer ist, dreht sie sich zu ihm. Weißt du, in welchem Raum der Gastvortrag nachher stattfindet? fragt sie ihn. Er blickt überrascht zu ihr auf. Sie haben noch nie miteinander gesprochen. Im großen Seminarraum im zweiten Stock, glaube ich. Daria nickt. Sie wendet ihren Blick ab und ordnet die Seiten ihrer Protokollnotizen. Jemand musste es Ihnen mal sagen, fügt Robert an. Wie bitte? Die Chirurgie-Kandidaten. Ich habe nie verstanden, warum Sie so grob tun müssen. Das ist ganz schön peinlich, wenn du mich fragst. Peinlich ist das richtige Wort, stimmt Daria zu. Obwohl sie bereits fast ein Jahr zusammen studieren, weiß sie so gut wie nichts über ihn, nicht einmal in welche Richtung er sich spezialisieren möchte. Er wirkt ruhig, sorgfältig, als würde er Dingen auf den Grund gehen wollen. Vielleicht ist er ein zukünftiger Internist. Anders als viele andere drängt er sich nicht in den Vordergrund, dabei scheint er gar nicht schüchtern zu sein. Und es hilft nichts, ihre Witze werden sie nicht schützen, sie werden Ehrfurcht vor ihrer Arbeit empfinden und Verantwortung für ihre Patienten, ob sie wollen oder nicht. Man kann versuchen, vor der eigenen Verletzlichkeit davon zu rennen, aber sie holt einen wieder ein, sagt Robert. Er blickt sie an, ohne diese aufgeladene zusätzliche Ebene, die alles so verflucht anstrengend macht. Sie kann sich ihm nähern, weil er nicht lauert wie eine lächerliche, ausgehungerte Hyäne. Möchtest du mit mir eine Runde durch den Englischen Garten spazieren? fragt Daria und überrascht sich damit selbst. Wir sind mehr als die Summe unserer Teile, das sagt die Chemikerin Ludmilla einmal zu ihrer Tochter Daria. Die weiß zu diesem Zeitpunkt noch nicht, was sie mit diesem Satz anfangen soll. Der Roman Die Summe unserer Teile von Paola Lopez ist im Tropenverlag erschienen. Und ich habe zum Abschluss noch eine Frage an die Autorin, die ja auch eine Wissenschaftlerin ist, wie die Figur, zumindest eine der Figuren in dem Roman. Ja, Paola Lopez, ein Gespenst, geht um, und zwar nicht nur in Europa, sondern in der ganzen Welt. Es heißt KI, künstliche Intelligenz. Und zufälligerweise sind Sie eine Expertin, was künstliche Intelligenz betrifft. Nun gibt es ja viele Autoren, Autorinnen, die eigentlich fürchten, dass die künstliche Intelligenz ihnen bald Konkurrenz machen wird, wenn nicht sogar das Metier des Autors der Autorin abschaffen wird. Chad Chibiti kann tatsächlich tolle Essays verfassen bereits und zum Beispiel Hollywoods Drehbuchautoren fühlen sich ernsthaft bedroht, fühlen sich ernsthaft bedroht, weil gerade so ein 0815-Plot, der am Reißbrett entworfen ist, das kann die KI sehr, sehr gut. Wird es in 20 Jahren noch solche Lesungen geben oder wird sich das erledigt haben? Was ist denn Ihre Prognose? Ich glaube, dass gerade in der Literatur wir nichts zu befürchten haben, weil da gerade die Tatsache, dass das jemand geschrieben hat, was man da liest, schon wichtig ist und wichtig bleibt. Gut, dann blicken wir hoffnungsvoll in die Zukunft, wenngleich die Romane, die wir heute besprochen haben, nicht ganz so hoffnungsvoll waren. Ich bedanke mich sehr herzlich bei den Autorinnen und natürlich beim Publikum fürs Zuhören und Mitdenken. Ich hoffe, Sie kommen wieder. Dankeschön. Ja, auch im Namen des Stifterhauses ein Dankeschön an Amira Ben-Saud, Paula Lopez und Christine Scheucher für diesen gelungenen Abend. Bevor Sie uns verlassen, möchte ich Sie auch noch auf unseren Büchertisch hinweisen, den Sie hinten am Ausgang finden. Dieser wurde heute in Zusammenarbeit mit der Buchhandlung Fürstlberger organisiert. Mein Kollege Lukas Kaiser steht Ihnen dort gerne zur Verfügung und verkauft Ihnen Exemplare, die Sie im Anschluss dann auch sicherlich gerne von den Autorinnen signieren lassen können. Ich hoffe, Sie haben den Abend genossen und lade Sie herzlich ein, uns nächste Woche wieder zu besuchen. Am Dienstag um 19.30 Uhr finden Lesungen von Christina Maria Landl und Johanna Grillmeier im Zuge der Buch- und Verlagspräsentation Myri Salzmann bei uns statt. Die Moderation wird Silke Thürnberger übernehmen. Das war es von meiner Seite. Ich danke Ihnen ebenfalls fürs Kommen und wünsche Ihnen eine gute Heimreise. Auf Wiedersehen.