Über die zunehmende Machtungleichheit zwischen Staat und Finanzsektor

In der neusten Folge von Denken Hilft sprechen Walter Ötsch und Andrea Binder (Politikwissenschaftlerin, Autorin von Offshore Finance and State Power) über das sogenannte Offshore Financing System und das daraus resultierende Ungleichverhältnis zwischen staatlicher und privater Macht. Binder erläutert, wie es geschickt geltende Regeln umgeht und nicht nur dazu dient, Profite an der Steuerregelung vorbeizubringen, sondern auch Reichtum zu generieren.

Zunächst bittet Ötsch um eine grundlegende Erklärung des Begriffs Offshore. Wörtlich übersetzt bedeutet dies nur „jenseits der Küste“, gemeint sind jedoch Finanzplätze in kleinen Ländern jenseits der Küsten der großen Ökonomien.
Ironischerweise ist der älteste und größte Offshore Finance Ort die City of London. Ähnlich wie zum Beispiel die Vatikanstadt verfügt sie über eine eigene Regierung und eigene Gesetze, sodass Banken innerhalb der City of London mehr Handlungsspielräume haben als andere außerhalb.
Der größte Vorteil liegt darin, dass sich an solchen Offshore Standorten US-Dollar schöpfen lassen – ein großer Vorteil für internationale Banken, da der US-Dollar die weltweit stärkste Währung ist. Diese US-Dollar unterliegen dabei weder der Regulierung der USA, da sie schließlich im Ausland geschöpft wurden, noch der Regulierung des jeweiligen Offshore-Standorts, da es sich um eine Fremdwährung handelt.
Dieses Verwischen von Zuständigkeitsbereichen kann man als Kern des Offshore-Financing bezeichnen.

Doch auch große Wirtschaftsanwaltskanzleien spielen eine wichtige Rolle: Sie sorgen aktiv dafür, die rechtlichen Rahmenbedingung eines Geldtransfers soweit zu verbiegen, dass nur sehr schwer feststellbar ist, welche Regierung verantwortlich ist. So entziehen sich Offshore Finanzsysteme der staatlichen Kontrolle. Es wird aktiv ein rechtlicher Raum geschaffen, der für die Mitwirkenden vollkommen transparent und klar organisiert ist, jedoch von außen absolut undurchsichtig erscheint.
Binder liefert ein kurzes Beispiel: Die Deutsche Bank gibt in US-Dollar in der City of London einen Kredit an ein brasilianisches Unternehmen. Wer ist dann zuständig? Einmal ist der Kreditnehmer brasilianisch, die Bank ist deutsch, der Ort ist englisch und die Währung amerikanisch.
Diese Strategie bezeichnet man als „jurisdinctional mismatch“ oder auch „kalkulierte Ambiguität“.
Sie kommt auch bei sogenannten Steueroasen zum Einsatz. Binder geht es jedoch um eine viel tiefgreifendere Dynamik als die der Steuerumgehung. Sie argumentiert, dass nicht nur Reichtümer an der Steuer vorbeigeschafft werden, sondern aktiv Reichtum erschaffen wird, und zwar mithilfe des Geldschöpfens.
Dabei handelt es sich um einen wirtschaftlichen Mechanismus, den es so erst seit den 70er Jahren gibt, da die Geldmenge seitdem nicht mehr an den Goldstandard gebunden ist. Das neue System bezeichnet man oft als „Fiat-Money“, eine Referenz an die Bibelstelle „Fiat Lux“, was soviel bedeutet wie „Es werde Licht“. Fiat-Money heißt also „Es werde Geld“.
Banken können durch die Vergabe von Krediten eigenständig Geld schöpfen und dies funktionert im Grunde so: Eine Person zahlt zum Beispiel 1000 Euro auf ihr Konto ein. Die Bank muss nur einen kleinen Teil des Geldes, den sogenannten Mindestreservesatz, tatsächlich bei der Zentralbank hinterlegen, hier einen Prozent. Darauf kann sie einer weiteren Person einen Kredit in Höhe von 990 Euro gewähren. Wenn diese Person sich von den 990 Euro zum Beispiel ein neues Handy kauft, so kann der Handyverkäufer wiederum 990 Euro bei seiner Bank einzahlen. Die sogenannten Sichteinlagen haben sich also um 990 Euro erhöht – Geld, dass so eigentlich nicht physisch existiert.
Zur Einordnung: In Deutschland, so Binder, sind nur etwa 6 Prozent der Geldmenge im Umlauf tatsächlich von Zentralbanken geschaffen, die anderen 94 Prozent dagegen werden von Banken durch Kreditvergabe geschöpft.

Der entscheidende Unterschied beim Offshore Financing besteht darin, dass man dieses System nicht nur in der eigenen Währung durchführen kann und so wie bereits erläutert Zuständigkeitsbereiche verschwimmen lassen kann. Das Offshore Financing sei außerdem streng elitär; kleinen Unternehmen oder Individuen aus der Mittelschicht sei der Eintritt sozusagen verwehrt.

Binder zufolge ist dieser ganze Vorgang nicht illegal, aber auch nicht legal. Gerade im englischen Rechtssystem seien viele Praktiken solange legal, bis ein konkreter Fall vor Gericht verurteilt wird. Es sei als Unternehmen oder Investor sogar möglich, anzugeben, wie viel Risiko man bereit ist, auf sich zu nehmen.

Das größte Problem mit dem Offshore Financing liegt laut Binders Analyse jedoch in der inhärenten Instabilität. Es handele sich nicht um eine gewöhnliche kapitalistische Investitionsaktion, wo sich die Preise immer mehr zuspitzen, bis es einen Crash gibt, der den Zyklus beendet, sodass Preise wieder sinken. Das System sei schlichtweg so groß, dass ein Crash verheerende Auswirkungen auf die Realwirtschaft haben würde. Immer wenn es droht zu kollabieren, finden Zentralbanken und Staaten einen Weg, um das Konstrukt künstlich zu stabilisieren; es handele sich um einen Teufelskreis, der auch dabei hilft, Eigentumsverhältnisse zu stabilisieren.

Dennoch möchte die Politikwissenschaftlerin als Grundbotschaft mitgeben: Das System sei menschengemacht, und was wir selbst geschaffen haben, können wir auch ändern. Denn das Gleichgewicht zwischen öffentlicher und privater Macht sei nicht mehr gegeben und müsse dringend wiederhergestellt werden.

Hier geht‘s zum vollständigem Gespräch.

Verfasst von Vivian Grabowski am 20.09.2023