Daniela Brodesser hat selbst die Erfahrung gemacht, in Armut zu leben und berichtet darüber in ihrem Buch Armut. Zu Gast bei Wassermair sucht den Notausgang klärt sie auf über verbreitete verbreitete Irrtümer in Verbindung mit Armut und spricht über Beschämung und Verdrängung. Außerdem geht es um systemische Strukturen, die Armutsbetroffene benachteiligen sowie um mögliche Lösungsstrategien.

Brodesser ist Bürokauffrau, Aktivistin, Kolumnistin und Mutter von vier Kindern. Bis zur Geburt ihres jüngsten Kindes lebte sie in einer typischen Durchschnittsfamilie, doch rutschte dann durch zwei Fälle von schwerer Krankheit in ihrer Familie in die Armut. Seit 2017 versucht sie, auf die Folgen wie fehlende Teilhabe, Beschämung und Rückzug öffentlich aufmerksam zu machen. Seit 2019 ist sie wieder über der Armutsgefährdungsschwelle.

Als erstes geht es um den Moment, in dem man realisiert, das man arm ist. Dies ist aufgrund der gesellschaftlichen Tabuisierung und eigenen Verdrängungsstrategien nämlich gar nicht so leicht zu merken wie man vielleicht annehmen würde. Statistisch braucht es etwa 18 Monate, bis man merkt, dass man nun arm ist. Für Brodesser kam der entscheidende Moment, als ihre Tochter 17 Euro für den Schulfotografen benötigte und Brodesser dieses Geld schlichtweg nicht mehr hatte.
Die Beschämung darüber, in Armut zu leben, sei so tiefgreifend gewesen, dass Brodesser sich nie selbst als arm bezeichnet hatte, sondern immer Synonyme und Umschreibungen für ihre Situationen fand. Sie selbst sei damit aufgewachsen zu denken, arme Menschen seien faul, würden nicht arbeiten und nichts leisten wollen. Nun kann sie aus eigener Erfahrung sagen, dass Armut nichts mit Leistung zu tun hat.
In ihrem Fall sei der „Beinbruch“ das mangelnde soziale Umfeld gewesen, das die Kinderbetreuung ab und zu übernehmen kann. Denn wenn sowohl Kind als auch eigene Mutter krank sind, dann gibt es für Mütter in Österreich kaum eine Chance, arbeiten zu gehen, so Brodesser. Die meisten Nachmittagsbetreuungsplätze sind privat organisiert und somit kostenpflichtig; Brodesser berichtet von einem Hort, der pro Monat 240 Euro Minimum gekostet hätte – dies sei für sie schlichtweg nicht leistbar gewesen. Es sei ganz simpel: Ohne Arbeit gibt es keinen Nachmittagsbetreuungsplatz, ohne Nachmittagsbetreuungsplatz keine Arbeit.
Brodesser erläutert weiter, dass sie oft in der Position gewesen war, sich rechtfertigen zu müssen, sobald sie über ihre finanzielle Situation gesprochen hatte. Daher habe sie irgendwann ganz aufgehört, darüber zu sprechen.

Im Weiteren lenkt Wassermair den Fokus weg von Brodessers individuellen Erfahrungen und wendet sich den systemischen Faktoren zu. So erläutert Brodesser die schwierige Situation der von Armut betroffenen Menschen anhand des Beispiels Wohnen: Armutsbetroffene leben ihr zufolge schon von Grund auf in schlechteren Wohnungen mit mangelhafter Isolierung und Schimmel, da sie sich die guten Wohnungen nicht leisten können. Laut einer Studie von Statistik Austria zur Energiearmut gibt das oberste Einkommensdrittel 3,2 Prozent vom Haushaltseinkommen für die Energiekosten aus, die Mittelschicht wendet ungefähr 5,4 Prozent auf und die Armutsbetroffenen geben ganze 11,2 Prozent aus. So verstärkt sich die Armut immer mehr.

Und auch die demokratische Teilhabe bliebe armutsbetroffenen Menschen grundlegend verwehrt. Da sie weder Besuche in Restaurants, Cafés noch Kulturveranstaltungen besuchen, werden Armutsbetroffene unsichtbar und können nicht für ihre Interessen einstehen. Brodesser betont, dass es dabei nicht bloß um Eintrittspreise gehe; die Entfremdung aufgrund von Armut gehe viel tiefer. Man fühle sich schlichtweg fehl am Platz und betrachte sich selbst lediglich als Belastung, nicht als vollwertiges Mitglied der Gesellschaft, das ein Recht auf Teilhabe und eine Stimme besitzt.
Die Tatsache, dass sich die Politik überhaupt nicht an armutsbetroffenen Menschen orientiert, verstärkt dieses Gefühl nur, so Brodesser. Dadurch steige lediglich die Resignation und Politikverdrossenheit, sodass man erst recht kein Interesse daran verspürt, wählen zu gehen oder sich zu organisieren.

Doch Brodesser ist froh, dass Armut endlich medial thematisiert wird, nicht zuletzt weil durch die Teuerungen auch die Mittelschicht zunehmend betroffen ist. Vor zwei bis drei Jahren habe es dazu maximal kleine Nebenartikel gegeben; mittlerweile sind die Teuerungen und die Schere zwischen Arm und Reich dem Demokratiemonitor zufolge die beiden drängendsten Themen für Österreicher*innen.

Die Verantwortung für die Ausarbeitung von langfristigen Lösungsstrategien sieht Brodesser ganz klar bei der Regierung. Sie kritisiert die österreichische „Almosen-Mentalität“ und fordert stattdessen gesellschaftliche Strukturen wie zum Beispiel Kinderbetreuungseinrichtungen und verbesserte Infrastruktur, die dafür sorgen, dass niemand überhaupt mehr arm sein muss.

Des Weiteren sei es Aufgabe der Medien, konstruktiv über Umverteilungsmodelle zu berichten und zu zeigen, dass eine Vermögens- oder Erbschaftssteuer maximal die oberen 4 Prozent in Österreich treffen würde und nicht etwa die Mittelschicht. Zu viele Themen würden aufgegriffen, ohne neutral und einfach erklärt zu werden, obwohl man den Menschen so die Angst nehmen könnte.

Klar ist: Es muss sich etwas ändern. Schließlich sei Armut besonders für Kinder extrem schädlich. Diese nimmt Kindern Perspektiven und Selbstvertrauen; sie resignieren ebenfalls und werden massiv in ihrer eigenen Entfaltung behindert. Brodesser selbst beobachtet bei ihren Kindern auch noch immer, dass sie erst langsam wieder lernen, die eigenen Wünsche zu formulieren, ohne Angst davor, ihre Mutter durch zusätzliche Kosten zu stressen.

Den vollständigen Vortrag findet ihr hier.

Verfasst von Vivian Grabowski am 9.10.2023.