Bei der aktuellen Ausgabe von Walter Ötschs Sendung Denken Hilft gab es gleich zwei Premieren: Nicht nur fand das Gespräch erstmals auf Englisch statt, auch das Thema ist diesmal nicht direkt ein Wirtschaftliches. Stattdessen war der Emotionswissenschaftler Rob Boddice zu Gast: Er kombiniert historisches Wissen mit Erkenntnissen aus der Neurowissenschaft und argumentiert, dass Emotionen niemals universell waren, sondern immer stark von ihrem jeweiligen historischen und kulturellen Kontext abhängen. Es haben also Menschen in verschiedenen Zeitaltern auf unterschiedliche Weisen gefühlt und Zugang zu ihren Emotionen gehabt.

Boddice kritisiert vor allem eine Denkschule, die ihren Anfang in den 70er Jahren in den USA hatte: den Universalismus der Gefühle. Das Narrativ besagt, dass Menschen nur über sechs Grundemotionen verfügen, die über alle Zeitalter hinweg gleich waren und sich lediglich ihre Oberfläche ein wenig wandelt. Außerdem existiert die Idee einer inneren Welt, in der sich die Emotionen eines Individuums befinden, und der äußeren Welt, die separat von der Inneren existiert.

Der Wissenschaftler erläutert, dass dies aufgrund von Forschungsergebnissen aus verschiedenen Disziplinen wie zum Beispiel der sozialen Neurowissenschaft und sozialen Psychologie sowie der Anthropologie der Emotionen mittlerweile stark angezweifelt wird. Er vertritt die These, dass Emotionen fundamental von ihrem jeweiligen historischen, kulturellen und sozialen Kontext abhängen. Dieser bestimmt maßgeblich, inwiefern Gefühle erlebt, ausgedrückt und praktiziert werden, was wiederum die Wahrnehmung der eigenen Gefühle stark beeinflusst.
Davon ausgehend argumentiert er, dass Menschen in anderen Zeitaltern und an anderen Orten ganz andere Zugänge zu ihren Emotionen hatten als wir heute in den westlichen Gesellschaften. Er wehrt sich dagegen, beim Beurteilen von historischen Ereignissen die damaligen Emotionen mit unserer heutigen Wahrnehmung gleichzusetzen. In seinem Buch, das ebenfalls auf Deutsch unter dem Namen Geschichte der Gefühle veröffentlicht wurde, führt er einige historische Beispiele an, die seiner Meinung nach häufig unpassend interpretiert werden. Im Gespräch mit Ötsch erläutert er zum Beispiel, welche gängige Auffassung vom Charakter Achilles aus Homers Illiad ihm unlogisch erscheint.
Boddice verweist darauf, wie stark sich die damalige Gesellschaft von der heutigen unterscheidet und meint, es sei vermutlich falsch, so zu tun, als könne man die Erfahrungen der Charaktere mit den unseren einfach gleichsetzen und auf Anhieb verstehen; es müsse sich eigentlich zwangsläufig entfremdend anfühlen.

Auch die Forschungsmethoden selbst thematisiert Ötsch. Boddice betont, dass wissenschaftliche Arbeiten über Emotionen niemals neutral oder kontextunabhängig sein können, die Idee der objektiven Wissenschaft sei definitiv eine Illusion. Gerade bei der Forschung zu Emotionen sei das Politische immer mit dabei, davon könne man sich gar nicht freimachen.

Den letzten Themenkomplex des Gesprächs widmet Ötsch der aktuellen westlichen Gesellschaft und dem politischen Zugang zu Emotionen. Boddice zufolge interessiert man sich beim Erarbeiten von Gesetzen, Vorschriften und Durchführen von Studien zwar offiziell schon für die Emotionen und vor allem das Glück der Menschen, doch dabei würde man Glück so umformulieren, dass es gut mit dem neoliberalen Wirtschaftssystem vereinbar ist. Anstatt die Menschen wirklich zu fragen, wie sie leben und wie sie sich dabei fühlen, beispielsweise auch als Angehörige einer marginalisierten Gruppe, wird die Zufriedenheit am Arbeitsplatz ermittelt.
Dabei entstehen auffällige Diskrepanzen: Finnland zum Beispiel gilt als eines der glücklichsten, lebenswertesten Länder der Welt, dabei hat es eine der höchsten Depressions- und Suizidraten in Europa. Boddice meint, man müsse immer danach fragen, wer von dieser Glückspolitik eigentlich profitiert. Meist würde man dann schnell erkennen, dass es diejenigen sind, die damit Geld verdienen, und nicht die allgemeine Bevölkerung.
Doch auch im Umgang mit Emotionen im Allgemeinen nimmt Boddice einen Widerspruch wahr: Auf der einen Seite existiere eine Fülle an Ausdrücken, die man zur Beschreibung von Emotionen verwenden kann, wodurch eine Offenheit für die Thematik suggeriert wird, auf der anderen Seite seien viele Menschen entfremdet von ihren eigenen Emotionen und hätten Schwierigkeiten, sich damit wirklich auseinanderzusetzen.
Boddice macht dafür zumindest teilweise die Idee des emotionalen Universalismus verantwortlich. Wenn wir lange genug hören, dass es nur sechs Emotionen gibt, würden wir probieren, unsere gesamte, hochkomplexe Gefühlswelt in diese sechs Boxen zu zwängen, wodurch uns eine Menge entgehen würde. Er glaubt, dass Menschen in früheren Gesellschaften eventuell mehr Zugänge zur eigenen Gefühlswelt hatten und auch über ein ganz anderes Vokabular verfügten, um dies auszudrücken.

Zum Abschluss sagt Boddice: „Das ist alles, was ich glaube, wirklich zu tun oder tun zu können, nämlich den Menschen heute ein Werkzeug an die Hand zu geben, um zu verstehen, dass die Art und Weise, wie sie sich fühlen, nicht nur eine Art natürliches biologisches Anschwellen oder Auftauchen ist, sondern dass es von irgendwoher kommt. Wenn sie eine bestimmte Art von Gefühl oder Gefühle haben, dann ist das das Produkt dessen, wo sie sind und wann sie sind sowie von politischen Rahmenbedingungen. Es ist wichtig zu wissen, dass all das verändert werden kann, dass es nicht fixiert und essentialisiert ist.

Hier findet ihr das vollständige Gespräch.

Verfasst von Vivian Grabowski am 29.10.2023