Bei dieser Folge von Im Blickpunkt handelt es sich um eine Weihnachtsfolge. Ausgehend von der krassen Differenz zwischen dem christlichen weihnachtlichen Grundgedanken des Schenkens und der Nächstenliebe auf der einen Seite und dem Konsumfest auf der anderen erörtern Roland Steidl und sein Gast, der Psychotherapeut Max Kastenhuber, worin die menschlichen Grundbedürfnisse eigentlich bestehen und inwiefern wir in der aktuellen Gesellschaft von ihnen entfremdet werden. Gerade für das eventuelle alljährliche Zusammenkommen (oder Aufeinandertreffen) mit der Familie einige wichtige Gedanken. 

In diesem Gespräch werden viele verschiedene Themen angeschnitten, doch das Thema Entfremdung sowie das menschliche Grundbedürfnis nach Gemeinschaft, Zwischenmenschlichkeit, Verstanden-Werden und Liebe ziehen sich durch die meisten Beiträge. 
Steidl betont dabei, dass Liebe keinesfalls ein Begriff ist, den man nur in Bezug auf menschliche Beziehungen denken sollte, schon gar nicht beschränkt auf den privaten Rahmen. Seiner Meinung nach ist Liebe etwas Allumfassenderes, das sich auch auf unser Verhältnis zur Natur beziehen lässt. Wir hätten uns nicht nur voneinander entfremdet, sondern auch von unserer Arbeit, unseren Lebensmitteln und unserer Umgebung. Als Beispiel für die Entfremdung von der Natur nennt Kastenhuber die aktuelle Debatte über die Bodenversiegelung, wo wir buchstäblich den Beton wegreißen müssen, um wieder in den direkten Kontakt mit der Natur darunter kommen zu können. 
Die Entfremdung bei der Arbeit äußert sich den beiden zufolge zum einen in der zunehmenden Automatisierung der Produktionsprozesse sowie in ihrer extremen Ausdifferenzierung. Mittlerweile gebe es schließlich kaum noch Allrounder, die viele verschiedene Fähigkeiten besitzen; stattdessen seien alle so spezialisiert auf einzelne kleinschrittige Aspekte der Arbeit, dass es schwerfalle, das große Ganze noch zu sehen. 

Ein weiteres Beispiel sehen Steidl und Kastenhuber in der Nutzung von sozialen und digitalen Medien. Sie beziehen sich auf Joachim Bauers These des gesamtgesellschaftlichen Realitätsverlusts und argumentieren, dass sich unsere Leben zunehmend im Virtuellen abspielen, während das, was unmittelbar vor uns ist, unwichtig wird. Dabei würde es sich vor allem um eine Verdrängungstaktik handeln: Im Grunde sei vielen Menschen bewusst, dass besonders Praktiken im Umgang mit Umwelt und auch Tieren eigentlich schädlich seien, doch sie würden lieber ihre Augen vor dieser Realität verschließen und sich stattdessen mit digitaler Unterhaltung trösten und ablenken. 
Sie betonen, wie wichtig es sei, auch die unangenehmen Dinge zu sehen und anzuerkennen, anstatt diese auszublenden – sowohl auf gesamtgesellschaftliche Kontexte als auch auf die individuelle Ebene bezogen.

Auch dies sei eine Form der Entfremdung. Steidl stellt die These auf, dass diese gerade in gerade in jedem gesellschaftlichen Bereich zunimmt. 
Kastenhuber ergänzt, dass es sich beim Entfremdungsmechanismus gleichzeitig um eine Täuschung handele: Es wird vorgegeben, unsere Bedürfnisse zu erfüllen, doch das eigentliche, das wir suchen und brauchen, verbirgt sich dahinter und würde darin liegen, die Entfremdung wieder abzubauen. Dies sei eine perfekte Analogie für die Konsumgesellschaft, stellt Steidl fest. Beide betrachten das Bedürfnis nach Nähe, Zärtlichkeit und Liebe als die wahren menschlichen Grundbedürfnisse, die unser Handeln motivieren. In der aktuellen sogenannten Leistungsgesellschaft würden wir jedoch ständig gegeneinander ausgespielt und stünden miteinander im Wettstreit, sodass emotionale Mängel entstehen, die Einsamkeit begünstigen. Mittels Konsum würden wir dann versuchen, diese emotionalen Löcher zu stopfen, doch das könne nicht gelingen, da es nicht die Produkte sind, die wir so dringend brauchen. Dabei würde man sich ständig zu überbieten versuchen, doch das eigentlich Wichtige bliebe dabei auf der Strecke. 
Kastenhuber ergänzt, dass es wichtig sei, Menschen unabhängig von ihrer Leistung zu schätzen, einfach weil sie da sind.
Er ruft dazu auf, selbstständig stärker zu reflektieren, ob die eigenen Verhaltensweisen einem gerade wirklich gut tun oder ob es nur etwas ist, das zur weiteren Entfremdung von den Mitmenschen beiträgt. Außerdem rät der Psychotherapeut, dass man sich selbst und das eigene Innere als Land betrachten solle, dass es zu erkunden und zu bereisen gilt. Denn auch von unser eigenen Gefühlswelt hätten wir uns häufig entfernt; insbesondere Männern wird schließlich oft anerzogen, ihre Emotionen zu unterdrücken. Wenn man es schafft, dies aufzubrechen, sei schon eine Menge getan. 
Und gerade in der Weihnachtszeit, die oftmals als besinnlich gilt, kann man ja vielleicht tatsächlich versuchen, sich mehr auf seine Mitmenschen und sich selbst einzulassen, um einander wirklich unterstützen und bereichern zu können.

Hier findet ihr das vollständige Gespräch. 

Verfasst von Vivian Grabowski am 25.12.2023.