Bei der diesjährigen Vortragsreihe im Dezember, die regelmäßig von der Volkshochschule Linz in Kooperation mit den beiden Geschichte-Instituten der Johannes Kepler Universität veranstaltet wird, lag der Schwerpunkt auf dem Thema China. Der Sinologe Daniel Fuchs berichtet über soziale Protestbewegungen innerhalb von China und erläutert, was die Proteste und der Umgang der Regierung Forscher*innen über das Verhältnis von Gesellschaft und Staat sagen können, wie sich die Menschen organisieren und worin die häufigsten Forderungen bestehen. Gleichzeitig warnt er davor, zahlreiche Proteste automatisch als Gefahr für die Stabilität des Staates zu interpretieren.

Fuchs informiert in seinem Vortrag über seine Quellen, Methoden sowie über die chinesische Demographie, die Rolle der sogenannten Wanderarbeiter*innen und erläutert seine Argumente teils anhand historischer Beispiele. In dieser kurzen Zusammenfassung kann dies nicht angemessen wiedergegeben werden, daher soll versucht werden, seine grundlegenden Argumente zu den sozialen Protesten zu erfassen. 

Der Sinologe betont, dass das Bild von China, welches uns medial häufig vermittelt wird, in einigen Punkten nicht akkurat ist. Ihm zufolge gebe und habe es in China immer mehr soziale Proteste gegeben, als wir in Europa mitbekommen. Die Datenlage sei natürlich limitiert, und auch die eigenständige Feldforschung sei seit Xi Jinpings Amtsantritt kaum mehr möglich, doch es gebe weiterhin einige vertrauenswürdige Datenquellen wie zum Beispiel die „Strike Map“, welche vom China Labor Bulletin, einer NGO mit Sitz in Hong Kong veröffentlicht wird. 
Fuchs berichtet, dass seit den 2000ern eine stetige Zunahme an sozialen Protesten zu verzeichnen ist. 2015 sei der Höhepunkt mit 2.212 Protesten im Jahr erreicht worden. Seitdem sei die Zahl rückläufig, doch 2018 seien es noch immer 560 Proteste im Jahr gewesen. 
Inhaltlich ließe sich recht unabhängig von der konkreten Quelle feststellen, dass knapp über 40% der  Gesamtzahl an sozialen Protesten Arbeitskämpfe und Streiks sind. 
Bis Ende der ersten Dekade in den 2000er Jahren seien Proteste von Bauern und Bäuerinnen in China der zentrale Kernpunkt von Protestverhalten gewesen, doch seit Mitte der 2010er Jahre könne man viele Proteste auf Haus- bzw. Wohnungseigentümer*innen, also die chinesische Mittelklasse zurückzuführen. Doch darüber hinaus, so Fuchs, gibt es auch in China Umweltproteste, feministischen und queeren Aktivismus sowie Proteste für die Durchsetzung der Rechte von Minderheiten. 

Des Weiteren weißt der Wissenschaftliche darauf hin, dass es in China zwar kein Streikrecht gibt, aber seit Anfang der 1980er immerhin kein Streikverbot mehr. Streiktätigkeit findet daher also im grauen Bereich statt. Außerdem, so Fuchs, existiert in China nur eine einzige legitime Gewerkschaftsorganisation, welche im besten Fall als Mediator agiert, sich aber an keiner Organisation von Streiks beteiligt und auch von Arbeiter*innen in der Regel nicht als Vertreterin ihrer Interessen wahrgenommen wird. Stattdessen würde man sie eher als Verbündete des Unternehmens oder der staatlichen Regulatoren betrachten. Daher würden Proteste in erster Linie über soziale Medien und Online-Vernetzung organisiert. Wichtige Plattformen seien Weibo, das chinesische Pendant zu Twitter, sowie WeChat und QQ. Dazu seien sie immer gewaltfrei.

Trotzdem dürfe man nicht den Fehler machen, die zahlreichen Proteste als Gefährdung für den Parteistaat zu betrachten. 
Zunächst würde ein Protest selten mehr als 50 Teilnehmende zählen. Dazu handele es sich um sogenannten „zellulären Aktivismus“. Das bedeutet, dass weder Vernetzung zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen stattfindet noch Vernetzung zwischen Angehörigen eines bestimmten Sektors. Die Proteste seien immer räumlich begrenzt und es würde kaum Austausch zwischen beispielsweise Arbeiter*innen bei unterschiedlichen Unternehmen stattfinden. 

Dazu kommt die Tatsache, dass China stark dezentral organisiert ist. Neben dem Parteistaat im Zentrum gibt es Fuchs zufolge eine Vielzahl an lokalen Regierungsebenen wie Stadt- und Kreisregierungen, die über vergleichsweise viel Autonomie verfügen. Die Protestteilnehmenden würden die herrschenden Missstände auf ein Fehlverhalten von lokalen Regierungen zurückführen und mit möglichst lauten Protesten versuchen, die Aufmerksamkeit der Regierung in Peking zu gewinnen. Der Gedanke: Sobald die Parteiführung von den Missständen erfährt, werden sie die lokalen Politiker*innen disziplinieren und im Sinne der Protestierenden entscheiden. Es handele sich bei den Protesten im Grunde also um ein „Anrufen des Parteistaats“. 
Außerdem würden die meisten Proteste keine offensiven, sondern defensive Forderungen stellen. Eine offensive Forderung wäre zum Beispiel eine Forderung nach einer Lohnerhöhung, doch solche Anliegen gibt es, so Fuchs, mittlerweile unter der aktuellen Regierung von Xi Jinping kaum mehr. Stattdessen würden sich viele Proteste auf Lohnrückstände beziehen, da den Arbeitenden ihre Löhne häufig nicht vollständig oder nur zum Teil ausgezahlt würden. Dabei handelt es sich um eine defensive Forderung, weil die Protestierenden ihr geltendes Recht einklagen. Wie bereits erläutert hoffen sie, von der Parteiführung Unterstützung in der Auseinandersetzung mit der lokalen Ebene zu erhalten. 

Ebenfalls erwähnenswert ist, dass die Regierung Fuchs zufolge solche Proteste auch als sogenanntes „Feueralarm-System“ nutzt. Da es in China keine demokratischen Wahlen gibt, sei es für die Parteiführung schwierig, die sozialen Problemlagen in Erfahrung zu bringen. Oftmals würden Proteste, die als ungefährlich eingeschätzt werden, zunächst toleriert, sodass die Regierung sich ein Bild vom Anliegen der Demonstrierenden machen kann. Außerdem würde sie verschiedene indirekte Repressionsmechanismen einsetzen, sodass direkte Repression wie körperliche Gewalt nur bei einem Drittel aller Proteste zum Einsatz käme. Instrumente wie Überwachung, Zensur und Ausübung von Druck auf Freund*innen und Familie seien ebenso sehr effektiv. 

Hier findet ihr den Vortrag in voller Länge. 

Verfasst von Vivian Grabowski am 22.12.2023.