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Welt-Bilder | 10 | Deutsche Romantik - 8.1.2013

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by dorftv

Univ. Prof. Dr. Walter Ötsch
Vorlesung „Themen und Theorien der Kulturwissenschaften I“ an der Johannes Kepler Universität Linz im Wintersemester 2012

10. Stunde, 8.1.2013
Das Welt-Bild der deutschen Romantik I

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1. Wiederholung: die “Innen-Außen-Unterscheidung” im Gang der Vorlesung bisher

Ilias
Vorsokratische Philosophen und griechische Klassiker
Christentum
Mittelalter
Renaissance
Mechanistisches Welt-Bild bei D

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2. Zwei grundlegenden Ideen der Romantik

Ein abgrundtiefes Inneres
Eine strukturlose Außen-Welt, ausgestattet mit Unendlichkeit

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3. Der Begriff Romantik

Von Romantikern selbst verwendet
17.Jhdt: >romantic< = Roman, insbes. der von Phantasie, Naturgefühl, Sehnsucht getragene Roman
1801: August Wilhelm Schlegel
>romantisch< als Abgrenzungs- und Protest-Begriff zu >klassisch<, gegen das „herrschende“ klassische Welt-Gefühl
Romantik als

Protestbewegung gegen die Aufklärung
Eine Weiterentwicklung der Idee des autonomen Individuums
Romantik im engeren Sinne (in der Literatur), Einteilungen: Früh-, Hoch- und Spätromantik

Wilhelm Karl Grimm [1786-1859]: „Kinder- und Hausmärchen“, 1. Band 1812, „Deutsche Sagen“, 2. Teil 1818
Adalbert von Chamisso [1781-1841], Ludwig Uhland, Wilhelm Hauff
Romantik im weiteren Sinne als geistesgeschichtliche Bewegung

Malerei:
Caspar David Friedrich [1774 – 1840], Philipp Otto Runge [1777-1810]
Karl Friedrich Schinkel [1781-1841]
Die Nazarener, Constable, Turner, Delacroix
Die „klassische“ Musik: Mozart, Haydn, Gluck, Beethoven, Brahms, Grieg, Bruckner, Mahler, Mendelssohn-Bartholdy, R. Strauss, C.M. von Weber, R. Wagner
Philosophie
Schelling [1775-1854]: „Von der Weltseele, eine Hypothese der höheren Physik zur Erklärung des allgemeinen Organismus 1798
Fichte, Novalis, Friedrich Schleiermacher [1768-1834]
Hardenberg (1772 – 1801). Er nannte sich Novalis (= „Brachland“, „Brachfeld“): „Die Lehrlinge zu Saiis“ 1798, Symbol der „blauen Blume“

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4. Die Grundidee: die Idee eines „tiefen Inneren“

Die Romantik versteht sich als Protestbewegung, gegen

rationale Kultur
Planung und Kontrolle des Lebens
Mechanisierung des Denkens
Abendländische Logos-Philosophie
Verstandeskultur
den analysierenden und synthetisierenden Verstand
Die Romantik als Kritik des Maschinen-Bildes von Descartes

Die Romantik als Fortführung von Descartes Konzept des „Inneres“

Empfindungen bzw. Gefühle werden in das subjektive Innere verlagert
eine neue Sensibilisierung (in Praxis): Programme der sensibility
Das Innere des Menschen ist unendlich tief.

Hegel über die Romantiker: Vorlesungen über die Ästhetik, ab 1832: „Der wahre Inhalt des Romantischen ist die absolute Innerlichkeit, die entsprechende Form die geistige Subjektivität“.

Das Individuum wird in der Romantik mit einer geheimnisvollen Tiefe ausgestaltet.

Novalis “Blüthenstab (1797-1798): „Die Phantasie setzt die künftige Welt entw[eder] in die Höhe, oder in die Tiefe, oder in der Metempsychose, zu uns. Wir träumen von Reisen durch das Weltall – Ist denn das Weltall nicht in uns? Die Tiefen unseres Geistes kennen wir nicht – Nach Innen geht das Geheimnisvolle ihren Weg. In uns, oder nirgends ist die Ewigkeit mit ihren Welten – die Vergangenheit und Zukunft. Die Außenwelt ist die Schattenwelt – Sie wirft ihren Schatten in das Lichtreich. Jetzt scheints uns freilich innerlich so dunkel, einsam, gestaltlos – Aber wie ganz anders wird es uns dünken – wenn diese Verfinsterung vorbei, und der Schattenkörper hinweggerückt ist – Wir werden mehr genießen als je, denn unser Geist hat entbehrt.“ (Rub 8030, S. 8)

Das „Innere“ des Menschen ist
- abgrundtief
- Dort lauert eine geheimnisvolle, leidenschaftliche Kraft. Sie ist gefährlich und zieht an. Man kann dabei wahnsinnig werden, sich in der Tiefe verlieren, aber diese Tiefe verkörpert das eigentlich Reizvolle am Leben.
[Frage zu “Sturm und Drang”] [Frage zu “Genie und Wahnsinn”] [Frage zum “postmodernen Subjekt”]

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5. Folgewirkungen der Romantik

Aus der Grundiee des „tiefen Inneren“ entstehen neue Konzepte von:

- Liebe zwischen Mann und Frau,
- Kindes-Liebe,
- Ehe,
- Öffentlichkeit und Privatheit,
- Intimität,
- Spontaneität,
- Einfühlungsvermögen,
- Sexualität,
- Freundschaft,
- Genie: Ein Genie kann in das tiefe Innere sehen und leidenschaftliche Gefühle für „das Erhabene“ wecken (wie Dichter oder Musiker)
Nietzsche: der „Übermensch“ kann das Chaos der Leidenschaften integrieren, indem er ihm in seinem Lebenswerk kreativen Ausdruck verleiht.

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6. Die romantische Natur

Die Natur ist für die Romantik kein geordnetes Ganzes.
Systeme zerfallen in Teile.
Das Gefühl der Formosigkeit der Natur
Kritik am mechanistischen Natur-Begriff
August Wilhelm Schlegel (Allgemeine Übersicht des gegenwärtigen Zustands der deutsche Literatur): Attacke auf den „in lauter Endlichkeiten befangenen Verstand“ der Aufklärer, die im Zeichen des „krassesten Epikuräismus“ nur von Nützlichkeitserwägungen ausgegangen seien und überall ein „ökonomisches Prinzip“ zugrunde gelegt hätten.
Die Welt wird weder als Maschine noch funktionalistisch verstanden.
Die Natur muss organologisch gedeutet werden.
Die Natur muss – so die führenden Romantiker – wiederverzaubert werden. Dazu soll der Sinn für Wunder und Geheimnisse wiederbelebt werden.
Novalis in einem seiner Notizbücher:„Die Welt muss romantisiert werden. So findet man den ursprünglichen Sinn wieder.“ Romantisierung ist „eine qualitative Potenzierung. Das niedrige Selbst wird mit einem besseren Selbst in dieser Operation identifiziert“.
Ein sentimentaler Zugang zur Natur: Naturgefühl, Naturempfinden, Naturschwärmerei, …
Themen:

Eine Unendlichkeitssehnsucht
o z.B. der freie Blick in den Naturbildern von Caspar David Friedrich

Eine zur Gänze mit Gefühl versehenen Natur, auch der Steine und der Elemente
Ein „atmosphärisches“ Konzept

Unendlichkeit

als immanentes Merkmal der Wirklichkeit: als unendlicher Bildungs- und Gestaltungsprozess der Natur, der immer neue Formen hervortreibt, ad infinitum. Keine Form ist endgültig. Die Wirklichkeit bildet eine unendliche Kette von Gestalten.
[Frage zu Goethe]
als transzendentes Merkmal der Wirklichkeit: das Endliche der Natur weist über sich hinaus, in das Unendliche. In dieser Ferne liegt das letzte Ziel jeglichen Sehnens und Strebens (die „blaue Blume“ in Novalis’ Roman Heinrich von Ofterdingen, als Symbol der Romantik).
Metaphysiken dabei:

pantheistisch: die Natur ist mit dem Göttlichen ident. Das beseelende Prinzip der Natur ist ihr immanent (Schelling, Hölderlin, Novalis)
theistische: die Natur ist vom Göttlichen getrennt und verschieden. Das beseelende Prinzip der Natur ist ihr emanent (Schleiermacher)
Das Beispiel des Pietismus

Friedrich Schleiermacher 1799 „Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern“: Das Wesen der Religion liegt nicht im Denken noch im Handeln, sondern in „Anschauung und Gefühl“
Der Grundgedanke einer alles verbindenden Liebe, für Menschen und auch für die Natur. Die Liebe als Erkenntniszugang: sie dringt in das Innere der Natur (Novalis Die Lehrlinge zu Sais)

Der Wald als wiederkehrendes Motiv

Die deutsche Eiche als Symbol der romantischen Naturauffassung.

Das eigentlich Revolutionäre der romantischen Naturauffassung ist ihr „subjektiver“ Zugang zur Natur. Dieser wird in der emotionalen Sphäre gesucht: in Gefühl, Stimmung. Empfindung, …

Liebe

als Trieb, intentional strukturiert, auf ein Objekt gerichtet, das zu dem meinigen gemacht werden soll, eine egozentrische Liebe.
als Anerkennung des Anderen, das Seinlassen, ein hingebungsvoller Selbstverzicht, eine altruistische Liebe.
Die Natur ist durch Liebe verbunden, einschließlich des Menschen.

Die fatale Subjekt-Objekt-Spaltung (auch die von Mensch und Natur) aus dem logozentrischen Denken soll damit aufgehoben werden.

Die Natur als „Du“: „Wird nicht der Fels ein eigentümliches Du, eben wenn ich ihn anrede? Und was bin ich anders, als der Strom, wenn ich wehmütig in seine Wellen hinabschaue, und die Gedanken in seinem Gleiten verliere?“ (Novalis)

Liebe ist das alles beherrschende Grundprinzip, eine ontologische-epistemologische Grundkategorie der Romantik.

Einheit im Sinne von Vereinigung, Verschmelzung
Identität im Sinne von Identifizierung

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7. Der romantische Mensch

Der Mensch besitzt angeborene Eigenschaften, als „natürliche Instinkte“:

Phantasie: als höchster Besitz, gegen Vernunft und gegen „Sinneserfahrung“
Sehnsucht
Schmerz
Edward Munich „Der Schrei“: die Qual einer weit entfernten inneren Quelle

Zeitlichkeit: als subjektives Erleben, Abwertung der linear messbaren Zeit
auch: mystische, unbegrenzte Zeit, Erfahrungen von Zeitlosigkeit

Moral: „innere moralische Neigungen“
das Mysteriöse: Seancen, spirituelle Medien (Freud als später Romantiker)
Das Böse: Baudelaire, E.A. Poe

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8. Exkurs: Ästhetik bei Friedrich Schiller

1795 „Über die ästhetische Erziehung des Menschen“:

Die Aufklärung ist reine „Verstandesaufklärung“ ohne moralische Aufklärung. Das „Verstandesvermögen“ der aufklärerischen Denker und das „analytische Vermögen“ des Geschäftsmannes haben sich parallel entwickelt und formen die „Wertbasis“ der bürgerlichen Gesellschaft.
Der „rational-verstandesmäßigen Sphäre“ steht die „sinnlich-emotionale Sphäre“ gegenüber. Nur hier ist die „ästhetische Erfahrung“ möglich, die höchste Erfahrung des Menschen. Sie vereint seine Doppelnatur.

Der Mensch ist nämlich zweierlei:

Mensch als Zustand: als Teil der Natur, als Natur-Ding, unterworfen den Naturgesetzen, eine endliche, empirische Natur
Mensch als Person: als geistiges Wesen, das sich selbst seine Gesetze geben kann, eine ewige, intelligible Natur.
Er wird von zwei Trieben geleitet:

dem sinnlichen Trieb, dem Stoff-Trieb, der auf immer neue Erfahrungs-Inhalte abzielt.
dem geistigen Trieb, dem Form-Trieb, der auf Konstanz, Unveränderlichkeit, Wahrheit und Recht abzielt.
Herrscht nur der sinnliche Trieb, ist das Ich „besinnungslos“, herrscht nur der Formtrieb, ist das Ich eine „leere Form“.

Das Ziel ist die Integration der beiden Triebe: „Nur indem er sich verändert, existiert er, und indem er unverändert bleibt, existiert er.“

Die „ästhetische Erfahrung“ ist die Aufhebung der Dualität von „Natur und Geist“, die Erfahrung der Einheit der beiden „Wesenskräfte“ des Menschen.
Das eigentliche Menschliche ist die Erfahrung des Schönen. „Schönes“ spricht Sinnlichkeit und Vernunft an

In der „ästhetischen Erfahrung“ ist die Zeit „aufgehoben in der Zeit“, ein „absoluter Zustand“, der „den Menschen zu einem sich selbst vollendeten Ganzen macht.“

Das Mittel zu dieser Einheit ist der Spieltrieb. Das Spiel ist „eine zwecklose Tätigkeit, um des Zusammenspielens beider Naturen willen,“ eine ganzheitliche Erfahrung: „Der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Wortes Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.“

Im bürgerlichen Denken hat nach Schiller das zweckfreie Spiel der Kunst keine Daseinsberechtigung, weil nur das materielle Interesse und pragmatische Erwägungen zählen. Diese „nicht ästhetisch gestimmten“ Menschen schaffen eine [hässliche] „nicht ästhetische Gesellschaft“.

Der „ästhetische Mensch“ gibt der Natur ihren Eigenwert. Er beutet sie nicht aus, sondern „begnügt sich mit ihrem ästhetischen Schein“. Er ist an der Natur nicht „interessiert“.

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9. Die romantische Liebe

In traditionellen Gesellschaften ist die Ehe die Fortführung bestehender Lebens- und Arbeitszusammenhänge: Besitz, Herrschaft, Privilegien, wirtschaftliche Interessen
Die Generationenfolge im Vordergrund: der einzelne erfährt sich als Teil einer genealogischen Abfolge, die er fortzusetzen hat. Der Mensch als „Nachkomme“.
Montaigne 1580 – 88 Essais: „Wir heiraten nicht nur für uns, wie es zunächst scheint, wir heiraten ebenso sehr für unsere Nachkommenschaft, für unsere Familie; Brauch und Sinn der Ehe geht unser ganzes Geschlecht an, weil über uns hinaus: deshalb lobe ich mir das Herkommen, dass man die ehelichen Verbindungen lieber durch fremde Vermittlung als durch eigenen Entschluss zustande kommen lässt, mehr auf Grund der Überlegung von anderen als auf Grund eigenen Gefühls; wie anders ist das doch, als wenn man einen Liebesbund schließt.“
Die Liebe zwischen den Ehepartner ist keine Voraussetzung der Ehe.
Die gute christliche Ehe hat die Liebe zur Folge, nicht zur Voraussetzung.
Liebe in der Ehe ist die „Summe häuslicher Verhaltenspflichten“, kein Ausdruck emphatischer psychophysischer Verbindung.
Eine verlässliche Zuneigung, keine leidenschaftliche Hingabe.
Heirat als kollektive Angelegenheit, bis hin zur kollektiven Kontrolle des sexuellen Vollzugs der Ehe.

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10. Das romantische Liebes-Konzept

[Frage zur Jugend heute]
Die romantische Liebe will alle Unterschiede zwischen den Partnern zu einer Einheit ohne Entfremdung verschmelzen.
Die Individualität in der verschmelzenden Liebe jenseits sozialer Identität.
“Die Liebe war in der romantischen Kultur kein normaler sozialer Akt mehr, sondern besaß eine unbedingte emotionale Größe, galt von Raum und Zeit abgehoben, wurde z.T. religiös überhöht und brach dadurch mit den traditionellen Konventionen der Ehe: sie provoziert darüber hinaus mit dem Gebot der Gleichstellung von Mann und Frau sowie mit dem Gebot der Sinnlichkeit. (Richard von Dülmen: Poesie des Lebens. Eine Kulturgeschichte der deutschen Romantik 1795-1820, Böhlau 200, S. 255)

http://www.walteroetsch.at/videos-von-vorlesungen/videos-zur-vorlesung-…

Videoproduktion: Alexander Grömmer und JKU
Video auf youtube: https://www.youtube.com/watch?v=AtyFv0bR3Ik&index=13&list=PLxR1evLJul6Z…-

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