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José M. Sánchez-Verdú - SCRIPTVRA ANTIQVA

Created at 31. Jan. 2020

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by DORFbrunnen

José M. Sánchez-Verdú SCRIPTVRA ANTIQVA (2010–2012)
Madrigalbuch I für fünf Stimmen

Wie Salvatore Sciarrino, so hat auch der andalusische Komponist José M.
Sánchez-Verdú, der Tradition folgend, ein ganzes Madrigalbuch für die Neuen
Vocalsolisten geschrieben. Die Texte der sieben Sätze entnahm er einer
Sammlung lateinischer Grabinschriften auf antiken Grabsteinen. Es sind kurze,
aphoristische Verse unterschiedlichen Charakters, bedeutungs-heischend
tiefsinnig (Nr. IV), lapidar (Nr. V), von fantasiegetränkter Metaphorik (Nr. VI).
So unterschiedlich sie auch sind, jede dieser knappen Inschriften enthält die
Ahnung eines Lebens mit all seinen Schicksalen. Diese Geschichten erzählt
Sánchez-Verdú auf überraschend konkrete Weise, selbst wenn seine Klangsprache
meist ebenfalls nur andeutet und die Texte meist aufgelöst werden in
einzelne Vokale und Konsonanten. Aus den kurzen Fragmenten entwickelt er
ein Klangtheater, das Bewegungselemente bewusst einbezieht. Das Rad der
Fortuna spiegelt sich in Drehbewegungen der Sänger, das Verspeisen des
Schmetterlings durch die Spinne wird beinahe naturalistisch lautmalerisch
dargestellt – und im letzten Madrigal wird die Stimme aus der Gruft auch
musikalisch höchst eindrucksvoll gestaltet. Mit solchen Verfahrensweisen
befindet sich Sánchez-Verdú in bester Übereinstimmung mit der Tradition,
denn auch im Madrigal des 16. Jahrhunderts erfreute sich die Klangmalerei als
die Wirkung steigerndes Mittel großer Beliebtheit. Jenseits der semantischen
Bezugnahme gibt es aber auch noch eine weitere Korrespondenz-Ebene. In
vielen seiner Werke hat sich Sánchez-Verdú mit der Schrift als Medium abendländischer Kultur auseinandergesetzt, am nachdrücklichsten in seiner Oper
GRAMMA. Dabei hat die Schrift für Sánchez-Verdú immer auch eine visuelle
und akustische Dimension. Und auch in seinem Madrigalbuch wählt er einen
strukturell-materialistischen – er selbst spricht von einem »epigraphischen«
– Zugang zu den antiken Inschriften. »Der Text, als Material, als Kalligraphie,
wird immer auch als Ornamentik, als Schriftstruktur im musikalischen Sinn
dargestellt«, schreibt Sánchez-Verdú, die Musik wird zum »Spiegel der Steine
«. Die »Geometrie der Worte« – in Stein gemeißelt die Jahrhunderte überdauernd,
aber von Erosion gekennzeichnet – wird so getreulich in Musik
übersetzt, dass selbst archäologische Kriterien wie Erosion und Alterung eine
musikalische Bedeutung erhalten. (Rainer Pöllmann)

Vocals
I
Eus tu viator, veni hoc et queiesce pusilu.
Innuis et negitas? Tamen hoc redendus tubi.
IV
Fortuna spondet multa multis, praestat nemini.
Vive in dies et horas, nam proprium est nihil.
V
Sola in terris omnibus
uno eodemque in die vitam adepta functaquest.
VI
Ver tibi contribuat sua munera florea grata
Et tibi grata comis nutet aestiva voluptas
Reddat et autumnus Bacchi tibi munera semper
Ac leve hibemi tempus tellure dicetur.

José M. Sánchez-Verdú, geboren 1968 in Andalusien, Spanien, hat seine
musikalische Ausbildung in Komposition, Dirigieren und Musikwissenschaft am
Real Conservatorio Superior de Música in Madrid in Spanien abgeschlossen
und führte danach sein Studium an der Hochschule für Musik und Darstellende
Kunst Frankfurt am Main (bei Hans Zender) sowie in Italien (F. Donatoni),
Frankreich (IRCAM) etc. Überdies hat er ein Jurastudium abgeschlossen
(Universidad Complutense Madrid) und ein Doktorat (Ph.Doc) at the Universidad
Autónoma Madrid.
Sánchez-Verdú wurde mehrfach mit internationalen Preisen ausgezeichnet,
darunter mit dem Förderpreis der Siemens-Stiftung (München), Premio
Nacional de Música (Spanien), Irino Prize (Tokyo), 1. Preis der Jungen Deutschen
Philharmonie (Frankfurt), Kompositionspreis der Bergischen Biennale
(Wuppertal), Antara Prize (Peru), Ibn Arabi Prize etc. 2008-2019 war er Professor
für Komposition am Conservatorio Superior de Música de Aragón in
Saragossa (Spanien). Seit 2016 ist er Mitglied der Artistic Council for Music at
the Sibelius Academy in Helsinki. Seit 2001 ist er Dozent für Komposition an
der Robert-Schumann-Hochschule Düsseldorf und seit September 2019 ist er
Professor für Komposition am Real Conservatorio Superior de Música in
Madrid.

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Das Stück wurde am 3.12.19 an der Anton Bruckner Privatuniversität im Rahmen des Festivals "Leicht über Linz 2019" von Neue Vocalsolisten Stuttgart, interpretiert.

Neue Vocalsolisten Stuttgart

Die sieben Konzert- und Opernsolisten, vom Koloratursopran über den Countertenor
bis zum schwarzen Bass, verstehen sich vor allem als Forscher und Entdecker. Um dem Neuen den Weg zu bereiten, arbeiten die Neuen Vocalsolisten regelmäßig mit arrivierten und jungen Komponist*innen zusammen in der Recherche nach neuen Klängen, Stimmtechniken und vokalen Ausdrucksformen.
So entstand im Laufe der letzten 20 Jahre ein reiches, hochvirtuoses und weltweit einzigartiges Repertoire vokaler Kammermusik. Dabei bewegen sich die Neuen Vocalsolisten insbesondere auf dem Terrain des gegenwärtigen Musiktheaters, das mehr denn je durch elektronische Medien, Video- und Konzeptkunst geprägt ist. Interdisziplinäre Diskurse gehören daher selbstverständlich zur Arbeit des Ensembles. Bildende Kunst, Literatur, Film und performative Formate sind darin ebenso einbezogen wie Bezüge zu traditioneller Musik. Vor diesem Hintergrund haben die Neuen Vocalsolisten das Genre des vokalen Kammer-Musik-Theaters geprägt, unter anderem mit Werken von Georges Aperghis, Carola Bauckholt, Luciano Berio, Luca Francesconi, Lucia Ronchetti, Oscar Strasnoy und Claude Vivier. Partner des Ensembles sind dabei stets hochkarätige Spezialistenensembles und Orchester, internationale Opernhäuser, die freie Theaterszene, elektronische Studios sowie zahlreiche Veranstalter von Festivals und Konzertreihen neuer Musik in aller Welt.

Johanna Vargas, Sopran
Susanne Leitz-Lorey, Sopran
Truike van der Poel, Mezzosopran
Martin Nagy, Tenor
Guillermo Anzorena, Bariton
Andreas Fischer, Bass

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Dem Musikschaffen der Gegenwart widmet sich heuer zum vierten Mal in Zusammenarbeit mit der Internationalen Gesellschaft für Neue Musik Oberösterreich das Festival Leicht über Linz, das mit zahlreichen Konzerten, Vorträgen und Performances von Studierenden, Absolvent*innen, Professor*innen und internationalen Gästen die Bruckneruniversität bespielt. Zu Gast sind neben den Neuen Vocalsolisten Stuttgart unter anderem das Contemporary Pop Duo „Nimikry” sowie Manuela Kehrer, die als Composer in Residence gewonnen werden konnte.

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