Am 28. Apr. 2023 | 16:00 Uhr
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Crossing Europe: Tribute 2023 - Angeliki Papoulia

Created at 4. May. 2023

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by dorf

Das Crossing Europe Tribute würdigt herausragende Persönlichkeiten des zeitgenössischen europäischen Kinos und ermöglicht dem Publikum, deren filmisches Schaffen zu entdecken.

 

Essay

Mit Konventionen und Normen brechen

Bianca Jasmina Rauch

Dieses Jahr widmet Crossing Europe sein Tribute zum ersten Mal einer Schauspielerin. Angeliki Papoulia erweckt mit ihrer eindrücklichen und vielfältigen Rollengestaltung, die sich jeglichen Eindeutigkeiten verweigert, Werke namhafter griechischer Filmschaffender zum Leben. Sowohl in der Kunst als auch im Leben mit Normen und Konventionen zu brechen, sei für sie entscheidend, erzählt Papoulia im Gespräch. Gesellschaftliche Strukturen, Geschlechtervorstellungen und Rollenbilder herauszufordern gehöre ebenso dazu wie in jeder Filmrolle offen für Neues zu bleiben. Ihre Arbeit als Schauspielerin und Theaterregisseurin ist geprägt von Aufgeschlossenheit, Offenheit, Neugier und stetiger Suche – eine Haltung, mit der sie auf die Welt gegen vorherrschende Erwartungshaltungen blickt.

Die gebürtige Athenerin schloss zunächst ein Studium an der National and Kapodistrian University of Athens am Institut für Theaterwissenschaft sowie an der Empros Theatre Drama School ab. Sie ist Mitgründerin der blitz Theatergruppe, die von 2004 bis 2017 bestand. Weiters zeichnete sie in zahlreichen Produktionen in den Bereichen Regie, Dramaturgie und Schauspiel (mit-)verantwortlich und tourte mit ihren Arbeiten durch ganz Europa. Gemeinsam mit einigen weiteren Akteur*innen der Anfang der 2000er florierenden Athener Theaterszene gestaltete Papoulia auch eine neue, sich im Aufbruch befindliche Filmszene mit, die internationale Kritiker*innen bald als „Greek Weird Wave“ (prominent vertreten durch Yorgos Lanthimos und Syllas Tzoumerkas) bezeichneten. Unabhängig finanzierte Projekte und kreative Praktiken, die mitunter längere Probenprozesse und Raum für Improvisation integrierten, prägten einige der künstlerischen Herangehensweisen. „Gemeinsam fanden wir eine Art, unsere Geschichten zu erzählen, uns auszudrücken. Mit unserem Durchhaltevermögen konnten wir international Sichtbarkeit für griechisches Kino schaffen und ich bin froh, dass ich einen Teil dazu beitragen konnte. Innerhalb dieses Aufbruchs, der sich in den letzten fünfzehn Jahren ereignet hat, schafft jeder Film aber für sich sein eigenes kreatives Universum.“ Innerhalb dieser schafft es Papoulia, ihre Rollen zu komplexen Figuren werden zu lassen, die niemals zu Abziehbildern längst gesehener Charaktertypen geraten, sondern sich durch feine Nuancen einer klaren Zuordenbarkeit entziehen. Wenn die Schauspielerin erklärt, dass sie in jeder ihrer Rollen flexibel zu bleiben versucht, lässt sich diese Herangehensweise unmittelbar nachvollziehen. Seien es die improvisierten Szenen als ältere Schwester in Kynodontas oder die Unvoreingenommenheit der reisenden Ida in Human Flowers of Flesh – Vorhersehbarkeit zu schaffen oder Kontrolle zu erlangen sind weder Ziel ihrer Rollenarbeit noch ihren Figuren zuzuschreiben.

In der Rolle der älteren der beiden Töchter in Kynodontas etwa lässt sie ihre rebellischen Züge hinter einer präzisen Contenance hervordringen. Seine volle Wirkung entwickelt das ansonsten verfremdet anmutende Spiel in Verbindung mit Szenen, in denen sie in heftigen Bewegungen aus ihrer Fassade ausbricht. Ihr Charakter wird doppeldeutig, bricht auf. An einer Stelle verfällt sie während des Tanzens – die abweichende Imitation einer Szene aus Flashdance – in eine Ekstase, die nach einem Ausbruch aus dem kontrollierten Körperzustand zu schreien scheint. Der Einsatz von Bewegung und Stillstand, Sprechen und Schweigen verleiht Papoulias Schauspiel stets eine besondere Kraft. Die stürmische Umarmung, mit der sie in A Blast ihren Partner begrüßt, der monatelang auf See war, lässt die jüngere Version ihrer Rolle als Maria in deutlichem Kontrast zur lebenserfahreneren Person erscheinen, die von der bitteren Realität ihrer Beziehung längst ernüchtert ist. Hierin zeigt sich auch eine Gemeinsamkeit vieler ihrer Figuren: Sie brechen aus, geben sich als widerständige Frauen zu erkennen und lassen spätestens ab dem Punkt, der dramaturgisch essenziell wird, keinen Zweifel an ihrer Entschlossenheit mehr aufkommen. „Furchtlos“ ist ein Adjektiv, das sich in Beschreibungen von Papoulias Spiel immer wieder findet. Daran eng gekoppelt steht eine gewisse Sensibilität, ob als (Ersatz-)Tochter in einem hierarchischen Familiengefüge (Kynodontas, Alpis, A Blast), als schlagfertige Athener Polizistin und Mutter eines Teenagers oder als in warmes Gelächter ausbrechende Verliebte in der träumerischen Atmosphäre von Isihia 6-9.

Für Isihia 6-9 bereitete sie sich wie für die meisten ihrer Filmarbeiten gemeinsam mit dem Regisseur, hier mit Christos Passalis zugleich ihr Hauptspielpartner, bereits einige Wochen vor Drehstart auf ihre Rolle vor. Aufgrund der COVID-19-Pandemie ging das zunächst nur mit Telefonaten und Spaziergängen – eine Form der Rollenarbeit, die aber, wie sich herausstellte, perfekt zum besonderen Fokus des Films auf Töne und Stimmen passen sollte. Eine Figur zu spielen, die sich zugleich in zwei Bewusstseinszuständen, in zwei Welten befindet und ihre emotionale Bandbreite von Freude, Liebe und Todesnähe auszubalancieren stellte sie dennoch vor eine besondere Herausforderung. Aber auch die Figur der Polizistin Elisabeth in To thávma tis thálassas ton Sargassón brachte eine große Komplexität mit sich. Erst als sie den „selbstzerstörerischen“ Kern der Figur vor Augen hatte und durch die gemeinsame Arbeit mit den Kolleg*innen konnte sie dieser Rolle Leben einhauchen. Dass Schauspiel zudem bedeutet, als Team füreinander da zu sein, betont Papoulia immer wieder – eine prägende Erfahrung war für sie dabei etwa die Unterstützung der Kolleg*innen am Set von The Lobster.

Offenheit in ihrer Rolle, eine enge Zusammenarbeit mit der ganzen Crew und der Bruch mit Normen kennzeichneten auch die Arbeit an Helena Wittmanns Human Flowers of Flesh. Ida, eine unabhängige Frau, die auf einem Segelboot mit einer fünfköpfigen Mannschaft übers Meer fährt zieht, lernen wir nicht durch analysierbare Informationen kennen, sondern rein über ihre Körpersprache. Papoulia strahlt als Ida sowohl Neugier als auch Unsicherheit auf positive Weise aus – eine seltene Verbindung, denn „wir möchten immer sicher und stabil sein“. Sie lädt uns, genauso wie Papoulia selbst, dazu ein, das Unvorhersehbare und Fluide zuzulassen und entzieht sich erneut stereotypisierten Mustern. Erst in den letzten Jahrzehnten sehen wir mehr und mehr komplexe Frauenfiguren wie Ida, so Papoulia, und es sei auch ihre Aufgabe, als Schauspielerin geschlechternormative Muster zu hinterfragen und umzudenken. Das, so viel ist sicher, hat die Künstlerin mit ihrer Arbeit längst geschafft.

Live gesendet am 28. Mai 2023

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